Elben Drachen Schatten
Elben geistig vorweg erlebt hätte.
In den letzten Jahrhunderten ihres Lebens verlor sie nie ein Wort darüber, so sehr man sie auch mit Fragen bedrängte, was sie während ihrer geistigen Reise erfahren hatte. Schließlich war es unter Elben der damaligen Zeit durchaus üblich, Reisen zunächst geistig vorwegzunehmen, was jedoch immer mehr aus der Mode kam. Die Anstrengung und das hohe Maß an Konzentration, das dabei nötig war, schienen die jüngeren Elben zu scheuen. Vielleicht hatten im Laufe der Zeitalter auch die geistigen Fähigkeiten nachgelassen, die dazu nötig waren.
Nur die Tatsache, dass ihr letztes Werk noch unvollendet war, hatte Gorthráwen davon abgehalten, ihrer Schwermut nachzugeben und ihrer Existenz durch die Einnahme einer giftigen Essenz vorzeitig ein Ende zu setzen. Damit hatte sie gewartet, bis die Schiffe der Elbenflotte die Anfurten von Athranor verlassen hatten. Sie blieb mit einigen anderen an Land zurück, die ebenfalls von diesem noch weitgehend unbekannten Leiden heimgesucht worden waren, und blickte den Schiffen nach, bis sie hinter dem Horizont verschwunden waren. Dann entschlief sie, und man ließ sie mit dem Blick aufs Meer sitzen, wie sie es gewollt hatte. Brass Elimbor selbst hatte diesen Platz zuvor mit einem Zauber versehen, der Aasfresser fernhielt und dafür sorgte, dass ihr Leichnam mumifizierte statt zu verwesen.
Der Altar war aus einem großen, dunklen Block aus dem Holz der Dunkeleiche gehauen – das waren riesige, uralte Bäume, die es im Herzen Athranors gab und von denen gesagt wurde, dass sie zu den ersten Bäumen gehörten, die überhaupt je auf Erden gewachsen waren. Ein Holz, das schon bewiesen hatte, dass es Ewigkeiten zu überdauern vermochte. Genau das richtige Material für einen tragbaren Altar der Elben, denn es war überraschend leicht.
Die vier Krieger, die den Altar gebracht und aufgestellt hatten, verbeugten sich vor ihm als Geste des Respekts vor den Bewohnern der drei geistigen Sphären – den Göttern, den Toten und den Verdammten.
Nachdem bereits fast alle Mitglieder des Kronrates eingetroffen waren, zog König Keandir mit seiner Frau Ruwen ein. Fanfaren erschollen. Eine Gruppe der besten Hornbläser wurde von Lauten- und Trommelspielern begleitet. Sie spielten eine Komposition, die sich »Ziel der Sehnsucht« nannte und seit dem Aufbruch aus der Alten Heimat als ein nicht zu übertreffendes Kunstwerk musikalischer Vollkommenheit galt. Sein Schöpfer Gesinderis der Gehörlose war ebenso wie Gorthráwen beim Aufbruch der Elbenflotte an Land geblieben, um zu sterben und sich der Qual seiner Existenz zu entziehen, indem er einging nach Eldrana. Einer Erzählung nach war er als kleiner Junge von den legendären Trollen geraubt worden. Diese ungeschlachten Wesen hatten das Elbenkind entführt, das schon in jungen Jahren durch ein selbst für elbische Verhältnisse besonders empfindliches Gehör aufgefallen war und bereits sehr gefühlvoll Flöte zu spielen vermochte, noch bevor es richtig laufen oder sprechen konnte. Die schrillen Schreie der Trolle zerstörten der Erzählung nach die empfindlichen Ohren des Elbenkinds, bevor es befreit werden konnte. So war Gesinderis der Gehörlose gezwungen gewesen, seine Kompositionen allein mit der Kraft seines Geistes zu erschaffen und zusammenzufügen. Er galt vielen als Beispiel dafür, dass es besser war, sich auf den reinen Gedanken zu verlassen, wenn man etwas Perfektes erschaffen wollte, und nicht auf die trügerischen Sinneseindrücke. Mochten diese Sinne auch noch so verfeinert sein, so konnten sie doch niemals die Klarheit des reinen Gedankens erreichen.
Der Grund dafür, dass Gesinderis die Elben auf ihrer Fahrt nicht begleitet hatte, war angeblich, dass er wollte, dass auch andere Musiker sich künstlerisch frei entfalteten, und das könnten sie nicht, solange er als lebender Meister galt, dessen Werke Sinnbilder perfekter musikalischer Harmonie waren. Im Rückblick sahen es jedoch nahezu alle qualifizierten elbischen Heiler als erwiesen an, dass auch Gesinderis unter dem Lebensüberdruss gelitten hatte.
Seine Absicht, jüngeren Musikern eine Möglichkeit der Entfaltung zu geben, hatte sich im Übrigen nicht verwirklicht. Seit der Uraufführung seiner Komposition »Ziel der Sehnsucht« war unter den Elben so gut wir nichts mehr komponiert worden, da es niemanden gab, der glaubte, dieses Stück übertreffen oder auch nur erreichen zu können. Manche von ihnen glaubten sogar, der wahre Grund für
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