Elben Drachen Schatten
dürfen, wovon man sich einen erheblichen Zuwachs an Wissen versprach.
Doch es gab auch solche, die argwöhnten, dass vielleicht selbst jemand mit der unglaublichen geistigen Disziplin eines Brass vom grassierenden Lebensüberdruss befallen war. Schließlich war es ja möglich, dass diese Krankheit bei einem derart alten Elben in einer veränderten, nicht gleich erkennbaren Form auftrat.
Oft hatte Brass Elimbor für Jahrzehnte kaum ein Wort gesprochen. Er blieb allein mit sich und seinen Gedanken und lebte in einem Meer von Erinnerungen. An Zusammenkünften des Kronrats hatte er schon zuvor nur bei sehr wichtigen Anlässen teilgenommen.
Umso gespannter waren viele gerade auf seinen Auftritt vor diesem Gremium. Dabei war gar nicht gesagt, dass er sich überhaupt äußern würde. Aber allein seine Anwesenheit gab der Versammlung die Aura des Außergewöhnlichen. Dies war seit dem Aufbruch von den Anfurten Athranors der wichtigste Augenblick der elbischen Geschichte – und Brass Elimbor lieferte allein mit seiner Gegenwart das äußere Zeichen dafür.
Die Versammlung des Kronrats war keineswegs eine geheime Zusammenkunft. Hunderte von weiteren Elben hatten sich um den Rat versammelt und verfolgten dessen Beratungen. Allen war bewusst, dass die Entscheidung über die Zukunft des gesamten Elbenvolks fallen würde.
Große Tische waren aufgestellt worden und so gruppiert, dass sie einen Kreis bildeten, um den die Mitglieder des Kronrats saßen. Man hatte hohe Stangen in den Sand gerammt, an denen die Banner des Königs und einiger einflussreicher Elbenfamilien flatterten, deren Vertreter ebenfalls Mitglied im Kronrat waren. Ein Kreis von gusseisernen Fackelhaltern umgab den Tagungsort und bildete für alle Elben, die selbst nicht Mitglieder dieses Gremiums waren, eine Grenze, die sie nur dann überschreiten durften, wenn sie ein Argument von außergewöhnlicher Wichtigkeit vorzutragen hatten. Eine solche Wortmeldung war allerdings erst dann gestattet, wenn die offizielle Beratung beendet war. Tatsächlich war so etwas jedoch seit Jahrhunderten nicht mehr vorgekommen.
Ein hölzerner Altar, über und über mit kunstvollen Reliefen versehen, wurde in die Mitte des Kreises getragen. Die Reliefs zeigten die Namenlosen Götter, die gesichtslos waren und in himmlischen Sphären schwebten. Schemenhafte Gestalten, denen Flügel gewachsen waren, die aber keine Zeichen von Individualität aufwiesen. Darunter sah man die Heerscharen der Eldran: Zu ihnen zählten die ins Reich der Jenseitigen Verklärung eingegangenen toten Helden, aber auch einige, deren Gesichtsausdruck deutlich machte, dass sie der Lebensüberdruss der diesseitigen Welt entrissen hatte.
Allerdings landeten nicht alle Elben, die dieser Krankheit anheim fielen, in Eldrana. Manche wurden zu »Verblassenden Schatten«, fanden sich zusammen mit jenen Elben, die irgendwann den Versuchungen des Bösen erlegen waren, in Maldrana wieder und wurden zu Schattenelben.
Darüber, wer nach Eldrana und wer nach Maldrana einging, entschieden letztlich die Namenlosen Götter. Aber es gab gelehrte Elben, die inzwischen die Ansicht vertraten, dass das Interesse der Götter am Volk der Elben mit der Zeit dermaßen gering geworden war, dass nur noch der pure Zufall entschied, wer das Reich der Jenseitigen Verklärung erreichte, und die Taten jedes Einzelnen nicht mehr gewürdigt wurden.
Der Altar stammte noch aus Athranor. Eine elbische Künstlerin, die unter dem Namen Gorthráwen die Schwermütige bekannt geworden war, hatte ihn gestaltet und darin ihre Sicht der Götter und des Kosmos verewigt. Das war kurz vor dem Aufbruch aus Athranor gewesen. Ein steinerner Altar wäre zu schwer gewesen für die Seereise, und so hatte Gorthráwen die Schwermütige eigens für dieses Werk noch die Bearbeitungstechniken eines für sie neuen Materials erlernt, und dies bis zu einer an Perfektion grenzenden Meisterschaft.
Da zwischen dem Entschluss, die Gestade der Erfüllten Hoffnung zu suchen und dem tatsächlichen Aufbruch der Elbenflotte Jahrhunderte vergingen, hatte Gorthráwen Zeit genug gehabt, sich diese Meisterschaft zu erwerben. Ihr selbst war von Anfang an klar gewesen, dass es ihr letztes Kunstwerk sein würde. Zu ihrer Zeit waren Fälle von Lebensüberdruss noch selten gewesen, und sie hatte behauptet, dass Künstler nicht immer in der Zeit zu Hause wären, in der sie tatsächlich lebten, und dass ihre Schwermut sie befallen habe, seit sie sich in Trance versetzt und die Reise der
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