Elbenthal-Saga Bd. 1 - Die Hüterin Midgards
hoggunatt,
Uppgang heilsa thin modhir! «
Lau’Ley fühlte, dass ihr Kind weit, weit entfernt war – aber auch, dass es sie gehört hatte und sich nun beeilte, ihrem Ruf Folge zu leisten.
Es dauerte weitere zwei Minuten, ehe das Wasser im Zentrum der von dem Hubschrauber gepeitschten Wellenrose zu brodeln begann.
Lau’Leys Herz schlug einen Takt schneller. Es war hier!
Noch schwärzer als die Nacht erhob es sich aus den Wogen und reckte seiner Mutter den riesigen, mit Algen bewachsenen Kopf entgegen. Lau’Ley lächelte und streichelte es zwischen den großen, silbrig schimmernden Fischaugen.
Sie hatten einander lange nicht mehr gesehen. Ihr Kind stammte aus einer Zeit, an die Lau’Ley sich nur ungern erinnerte – unter Anwendung von Gewalt gezeugt von einem Vater, dessen Existenz sie verdrängte und an dem sie sich schon lange gerächt hatte. Falls das Kind diesen Hass spürte, ließ es sich das nicht anmerken; es gab vielmehr einen herzzerreißenden Laut von sich – einen Laut des Glücks über die Berührung der Mutter. Auch Lau’Ley war in diesem Moment glücklich, denn im Grunde ihres Herzens liebte sie das Kind – trotz des Vaters. Sie ertrug es nur nicht, es öfter zu sehen.
Sie übertrug ihm den Befehl Laurins – die Auserwählte zu fangen und zu einem bestimmten Punkt am Ufer der Elbe zu bringen. Sie sagte ihm, wo Laurins Leute die Auserwählte das letzte Mal gesichtet hatten, und das Kind nickte gehorsam. Dann beugte sie sich nach vorne, um es auf die nassen Lippen zu küssen …
… und ihm seinen wahren Befehl zu geben. Mental, so dass Laurin ihn nicht hören konnte.
In der Sekunde, in der du sie sichtest, töte sie. Töte sie, ohne zu zögern. Töte sie für mich .
Lau’Ley konnte nur ahnen, warum sie das tat – aus purer Eifersucht. Denn sie wusste, dass ihr Kind den Preis dafür bezahlen würde, wenn Laurin die Nachricht vom Tod der Auserwählten erhielt. Sie wusste es und nahm es billigend in Kauf. Denn so sehr sie es auch liebte, sich selbst und ihr ungestörtes Leben mit Laurin liebte sie nun einmal mehr.
Sie sah den großen Fischaugen an, dass ihr Kind verstand, dass es gerade dabei war, auf seine letzte Reise zu gehen – und dass es diesen Befehl dennoch ohne zu zögern ausführen würde … nicht, um sich doch noch die Liebe der Mutter zu verdienen, sondern einzig und allein, um seine eigene ein für alle Mal unter Beweis zu stellen.
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Die Geschichten und Berichte vom Monster in der Elbe sind so alt wie Dresden selbst – und älter. Manche von den wenigen, die die Begegnung mit ihm überlebt haben, beschreiben es als riesigen Wels, andere als Schlange, Stör oder gewaltigen Flossenaal, wiederum andere sogar als Riesenkrebs mit den Tentakeln eines Kraken oder als zauberhaft verführerische Nixe. Gemeinsam jedoch ist all diesen Geschichten die mörderische Natur der Kreatur: Sie greife kleine Boote und Schiffe an und ziehe sie mit Mann und Maus in die Tiefe des Flusses. Die Archive der Stadt sind voll von diesen Berichten, und es ist noch keine acht Jahre her, dass das Dresdner Abendblatt einen zwei Seiten langen Artikel über die fast vollständige Zerstörung einer Elbe-Kreuzfahrtyacht und den Tod sämtlicher 19 Passagiere und Crewmitglieder gebracht hat. Eine Gruppe von Kryptozoologen hatte die Überreste des großen Bootes untersucht und Spuren von Zähnen und Krallen sichergestellt. Von einer dieser Spuren konnte man sogar einen Abdruck machen und den Zahn in einem Modell rekonstruieren. Allerdings wurde dieses Modell, wie überhaupt die ganze Geschichte des Monsters in der Elbe, von zahlreichen wissenschaftlichen Fakultäten mehrerer Fachrichtungen als Messirrtum oder gar als publikumsheischende Augenwischerei und Fälschung angeprangert. Das mag in erster Linie daran gelegen haben, dass der Zahn absurderweise ein Haifischzahn, also der Zahn eines Salzwasserfisches, war. Die Biologen waren sich einig: In der Elbe gibt es keine Haie – und schon gar nicht welche mit Klauen.
In dieser Nacht sollte Svenya, die als Dresdnerin natürlich schon oft von dem Monster in der Elbe gehört hatte, zwei Dinge lernen. Zum einen: In der Elbe gibt es wirklich keine Haie. Zum andern: Das Zahnmodell war trotzdem keine Fälschung … und auch kein Messirrtum.
Als die ersten Fische in kleinen Schwärmen an ihr vorbeihuschten, nahm Svenya das noch nicht als besonderes Phänomen wahr; erst als die Schwärme mehr und größer wurden, bekam sie den Eindruck, dass sie vor
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