Elbenthal-Saga Bd. 1 - Die Hüterin Midgards
schmauchte sie selbstzufrieden an, während seine noch immer bernsteinfarbenen Augen sie fixierten. Svenya erkannte, dass sie ihm schon einmal begegnet war. Er hatte den Trupp angeführt, der sie auf der Brücke verfolgt hatte, ehe sie in die Elbe gesprungen war.
Die anderen vier waren Dunkelelben. Sie ließ den Blick weiter schweifen, in der Hoffnung, etwas Bekanntes wahrzunehmen, das ihr helfen könnte, ihren Standort zu bestimmen. Der Raum, in dem sie lag, war fensterlos und zu einer Hälfte feiner Salon, zur anderen Folterkammer. Da standen ein Pranger und ein Andreaskreuz, eine Streckbank und ein Tisch voller grob geschmiedeter Werkzeuge, deren Funktion Svenya sich lieber nicht vorstellen wollte. Daneben ein stählerner, auf Hochglanz polierter Seziertisch und hochmoderne chirurgische Instrumente – vom Skalpell bis zum Brustkorbspreitzer.
»Wer bist du?«, fragte sie den Anführer.
»Gerulf«, antwortete er mit einem Knurren in der Stimme, das ihr bis ins Mark ging. »Der Anführer von Laurins Eingreiftruppe.«
»Was habt ihr Raegnir für den Verrat bezahlt?«
Gerulf lachte rau auf und deutete den vier Elben an, den Raum zu verlassen. Sie verschwanden. »Dem Alten? Dem mussten wir gar nichts bezahlen. Er arbeitet schon lange für uns.«
»Er arbeitet für euch? Wieso das?«
»Hast du eine Vorstellung davon, wie alt er ist?«, fragte Gerulf, während er sich endlich einen Morgenmantel überwarf. »Oder besser, warum er so alt ist?«
»Nein«, gestand Svenya. »Das habe ich mich schon oft gefragt. Ich dachte, Elben leben ewig.«
Er grinste um die dicke Zigarre in seinen funkelnden Zähnen herum. »Ja und nein. Wirklich ewig lebt nichts und niemand in diesem Universum. Die Ewigkeit ist ein völlig abstraktes Konstrukt, das real gar nicht wirklich existiert – zumindest nicht nachweisbar. Auch Elben und wir Mannwölfe altern – sehr viel weniger durch die Zeit als durch unsere Taten. Bestimmte Arten von Magie zum Beispiel verbrauchen Lebenskraft unwiderbringlich.«
Svenya erinnerte sich daran, wie Alberich gealtert war, als er die Festung am Tag ihrer Ankunft vor dem Fluch der Frage geschützt hatte.
»Raegnir hat Alberich dabei geholfen, Elbenthal zu bauen. Fast all seine Lebensenergie hat er darauf verwendet. Aber hat Alberich ihn dafür in den Rang eines Fürsten erhoben? Nein.«
»Seine Stellung als Marschall erhebt ihn doch darüber«, sagte Svenya. »Es gibt in ganz Elbenthal niemanden außer Alberich und Hagen – und jetzt mir –, der über ihm steht.«
»Diener bleibt Diener«, entgegnete der Mannwolf verächtlich.
»Raegnir hat mich und Elbenthal verraten wegen seines Egos?« Svenya wollte und konnte das nicht glauben.
»Ich hätte es«, erwiderte Gerulf. »Aber nicht Raegnir. Nein, das muss man ihm zugutehalten. Er war zufrieden mit seiner Position. Aber er hatte nicht damit gerechnet, was das Alter aus ihm machen würde. Natürlich, den Preis hat er für die Sicherheit seines Volkes gerne in Kauf genommen – als er noch jung war und voller Optimismus, die Heimat irgendwann einmal wiederzusehen. Doch im Alter fällt einem das Warten zunehmend schwerer. Da spürt man den nahenden Tod, ist nicht mehr so geduldig … und auch nicht mehr so zuversichtlich. Jahrhunderte vergingen, ohne dass sich an der Situation etwas änderte. Dann ein ganzes Jahrtausend, und noch immer leben er und sein Volk in der Dunkelheit unter der Erde. Und irgendwann war da für Raegnir nichts mehr, wofür es sich zu leben lohnte – außer der Sehnsucht, die alte Heimat ein letztes Mal wiedersehen zu können. Diese Sehnsucht wurde mit der Zeit mehr und mehr zu einer Besessenheit – getrieben von der Angst, dass sie sich nicht mehr erfüllt, ehe er stirbt. Denn genau wie Alberich und einige andere der Seinen altert Raegnir durch das Instandhalten der Festung kontinuierlich weiter. Langsam, aber dennoch unaufhörlich. In Alfheim gibt es Quellen der Kraft, die es Elben ermöglicht, ihre Magie und auch ihr Leben wieder aufzufrischen – nicht aber in Midgard; zumindest heutzutage nicht mehr. Also ist alles, was Raegnir noch will, entweder zum Sterben nach Hause zurückzukehren oder dort die Chance zu erhalten, durch eine Regeneration seiner Kräfte wieder jung zu werden. Der eine Wunsch ist so treibend wie der andere, findest du nicht?«
Svenya fühlte sich an das erinnert, was der Drache gesagt hatte: dass es viele Elben gab, die ein Leben in Sklaverei in Kauf nehmen würden, nur um endlich wieder Zuhause
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