Elbenthal-Saga Bd. 1 - Die Hüterin Midgards
sie sich beeilen musste, denn ein Mannwolf wie Gerulf war mit seinen Selbstheilungskräften ganz bestimmt nicht lange bewusstlos, aber sich zu hetzen brachte bei einer derart filigranen Arbeit wie Schlossknacken nichts. Hier war Fingerspitzengefühl angesagt – und genau das fehlte ihr wegen der Nachwirkungen der Betäubung. Ihre Feinmotorik würde noch für eine ganze Weile lahmgelegt sein, und es fühlte sich an, als trüge sie Backofenhandschuhe. Mehr als einmal rutschte der Haken wieder aus dem Loch. Dann hatte sie ihn endlich an den Zahnungen im Schloß. Doch so sehr sie auch versuchte, ihn in der richtigen Mischung aus Behutsamkeit und Kraft herumzudrehen, er glitt immer wieder ab.
Da stöhnte Gerulf auf und rührte sich. Sie hoppelte hinüber, um ihn wieder ins Reich der Träume zu schicken, indem sie sich seitlich auf ihn fallen lassen und ihm dabei mit dem Ellbogen gegen die Schädelseite schlagen wollte. Doch seine Heilkräfte waren noch besser als erwartet. Gerade als sie sich fallen ließ, rollte er sich zur Seite weg, und Svenya prallte hart auf dem Boden auf – mit dem Ellbogen zuerst. Der Schmerz ließ ihr die Tränen in die Augen schießen, und im nächsten Moment war Gerulf auch schon auf die Füße gesprungen und trat ihr mit Wucht in den Bauch. Der Tritt presste alle Luft aus ihr heraus und Svenya krümmte sich, verzweifelt nach Atem ringend. Einen Moment lang wunderte sie sich, dass sie unter Wasser keine Luft holen musste, hier an Land aber schon.
»Das war ein Fehler«, bellte Gerulf und rieb sich den offenbar noch stark schmerzenden Solarplexus. »Ein großer Fehler.« Er trat sie noch ein zweites Mal, dann ging er hinüber zu einem der Tische und nahm eine ekelerregend scharf gezahnte Scherenzange in die große Hand. »Weißt du, wenn ich es mir recht überlege, hat Laurin gar nicht befohlen, dir kein Haar zu krümmen. Er hat lediglich verlangt, dass ich dich lebend abliefere. Und lebend ist sehr, sehr frei interpretierbar! Ich glaube nicht, dass Laurin jeden Körperteil von dir braucht.«
Er kam auf Svenya zu, und sie versuchte, nach hinten wegzurobben – was natürlich völlig aussichtslos war.
Da sah sie nur noch einen Ausweg.
»Tega Andlit dyrglast.
Opinberra dhin tryggr edhli.
Dhin Magn lifnja
Oegna allr Fjandi
Enn Virdhingja af dhin Blodh.«
Svenyas Rüstung materialiserte prompt – aber, wie befürchtet, unter den Ketten. Aber es war auch der Panzer, von dem sie sich Rettung erhoffte. Als Gerulf die Verwandlung sah, sprang er auf sie zu.
Svenya drückte auf das Emblem, und der Panzer erschien. Gerade noch rechtzeitig. Die große Zange rutschte von ihrem Gesicht ab, ohne ihr auch nur einen Kratzer zuzufügen, und auch den Tritt, den Gerulf ihr vor Wut versetzte, spürte sie nicht. Dafür fluchte er laut auf – der Kontakt seines nackten Fußes mit dem unsichtbaren Schutzschild musste wehgetan haben.
Svenyas Gedanken jagten um den Panzer und seine sonderbaren Eigenarten. Er konnte die unterschiedlichsten Formen annehmen – irgenwie ganz nach Bedarf, so, als würde er auf der einen Seite mit magischen Sensoren arbeiten und auf der anderen mit ihrem Bewusstsein verbunden sein und tun, was sie unterbewusst wollte. Es war höchste Zeit für ein Experiment – den Versuch, ihn darüber hinaus auch bewusst zu steuern … um mit ihm durch Ausdehnung die Ketten von innen heraus zu sprengen.
Svenya nahm all ihre Willenskraft zusammen und stellte sich vor, wie der Panzer sich von ihrer Haut und ihrer Rüstung löste und sich aufblähte wie eine Seifenblase. Und tatsächlich – es funktionierte. Die Ketten und Schellen dehnten sich knirschend und zersplitterten dann, als wären sie aus Eis.
Gerulf starrte sie ungläubig an – aber nur einen winzigen Augenblick lang. Während Svenya sich aufrichtete, sprang er bereits zurück zum Tisch und griff nach einer Axt. Sie sah alt aus, schartig und rostig.
»Reines Eisen«, sagte er. »Gefeit gegen Elbenmagie.« Im nächsten Moment verwandelte er sich in seine wölfische Gestalt und hechtete auf sie zu.
Svenya war weit davon entfernt, wieder fit zu sein, sonst hätte sie sehr viel schneller reagiert. So aber schaffte sie es weder rechtzeitig, eine Waffe zu ziehen noch dem Angriff auszuweichen. Die sensenförmig geführte Doppelblattaxt traf sie an der Schulter … und schnitt durch den Panzer hindurch wie durch Luft. Die schorfige Klinge ritzte ihre Haut tief, und ein heftiger Schmerz durchzuckte Svenya. Es war ein Brennen,
Weitere Kostenlose Bücher