Elbenthal-Saga Bd. 1 - Die Hüterin Midgards
erkannt hatte, mit der freien Linken ihre Pistole gezogen und schoss in schneller Serie fünf Schüsse hintereinander ab. Das Aufbäumen der Feuer und Blei spuckenden Waffe verdoppelte den Schmerz in ihren Wunden, aber es gelang ihr dennoch, gut genug zu zielen und beide Gegner hintereinander zu Boden zu strecken.
»Du wirst nicht entkommen!«, brüllte Gerulf hinter ihr. Er kauerte an den Türrahmen gelehnt. »Wir werden dich kriegen – und dann wirst du es noch bereuen, mein großzügiges Angebot abgelehnt zu haben!«
»Oh, ich bin sehr gespannt zu hören, was das wohl für ein großzügiges Angebot gewesen sein mag«, sagte eine Stimme von weiter vorne, und Svenya zuckte zusammen. Sie würde diese Stimme unter Tausenden wiedererkennen. Es war die Stimme aus jener Nacht ihres siebzehnten Geburtstages. Die Stimme des Dunklen Jägers. Des Schwarzen Prinzen.
Laurin!
54
In dem Raum jenseits des Ganges stand Laurin mit zehn seiner Leute – die allesamt mit den Mündungen ihrer Maschinengewehre oder mit Pfeil und Bogen auf sie zielten. Svenya erkannte, dass die Spitzen der Pfeile wie Gerulfs Axt aus reinem Eisen waren. Ihr Panzer war also nutzlos.
So erhaben wie sonst nur Hagen stand Laurin da in seiner archaisch wirkenden Montur aus Leder, Pelz und Leinen und musterte sie mit einem amüsierten Lächeln von oben bis unten.
»Du bist weit gekommen«, sagte er mit seiner samtig tiefen Stimme, »seit wir einander das letzte Mal gesehen haben.«
»Du hast ja keine Ahnung«, antwortete Svenya, weil sie nicht wusste, was sie sonst dazu sagen sollte, und überlegte, wie sie noch schnell an ihn herankommen konnte, um ihn auszuschalten, ehe die anderen sie niederschießen würden. Ihre Fäuste schlossen sich fester um den Griff Skalliklyfjas und den Knauf ihrer Pistole.
Laurins scharfer Blick nahm das sofort wahr – aber sein Schmunzeln wurde nur noch amüsierter. »Ja, es wäre reizvoll herauszufinden, wie weit du tatsächlich kommen würdest. Ich persönlich glaube, nicht sehr weit – aber das werden wir nie erfahren, denn wenn du dich jetzt ohne Gegenwehr ergibst, wird dir nichts geschehen«, sagte er.
Nachvollziehbarerweise glaubte Svenya ihm nicht ein einziges Wort. »Du bist gekommen, mich zu töten, und ich werde mein Leben bis zum letzten Atemzug verteidigen.«
»Dich töten?«, fragte er. »Nein.«
»Nein?«
»Das war nie mein Plan, Svenya«, sagte Laurin, und sein amüsiertes Schmunzeln wich einer beinahe schon besorgten Miene. »Kein Wunder, dass du dich die ganze Zeit so heldenhaft gewehrt hast. Aber nein, dein Tod nutzt mir nichts. Ich brauche dich lebend.«
Er klang so, als ob er es ernst meinte, und Svenya erkannte, dass er die Wahrheit sagte. Wenn er sie tot sehen wollte, wäre sie das jetzt bereits.
»Wofür brauchst du mich lebend?«
»Steck zunächst deine Waffen weg.«
Svenya entschied zu tun, was er sagte. Ihre Chancen, Laurin jetzt töten zu können, standen einfach zu schlecht. Sie musste darauf bauen oder dafür sorgen, dass sich später eine bessere Gelegenheit ergeben würde.
Zwei der Elben legten ihr Fesseln an.
»Ihr Kern ist aus reinem Eisen«, sagte Laurin. »Du wirst sie auch mit deinem Panzer nicht sprengen können.«
Ehe sie die Treppe nach oben geführt wurde, hörte Svenya Laurin sagen: »Nehmt auch den Wolf mit und versorgt seine Wunden. Aber nicht zu gut. Ich werde mich später um ihn kümmern.«
Oben angekommen, fand Svenya sich in einer gewaltigen und prunkvoll eingerichteten Jugendstilvilla wieder. Als sie nach draußen geführt wurde, bestätigte sich ihre Vermutung: Sie war irgendwo im Dresdner Villenviertel Blasewitz, gegenüber dem Waldpark.
Ein Helikopter stand auf der weiten Rasenfläche zwischen dem Gebäude und dem zweieinhalb Meter hohen Speerzaun. Neben dem Heli parkten Vans und Geländewagen wie die, die sie gestern verfolgt hatten.
Svenya blieb stehen. An dem Hubschrauber vorüber und durch den Zaun hindurch hatte sie etwas gesehen, was keiner außer ihr wahrgenommen hatte. In der Spitze einer etwa einhundert Meter entfernten Pappel kauerte Yrr! Nur Hel mochte wissen, wie sie sie schon wieder so schnell gefunden hatte. Die Blicke der beiden Frauen trafen sich, und als Svenya sah, dass Yrr im Begriff war, ihr Schwert zu ziehen, schüttelte sie unmerklich den Kopf. Sie wusste, Yrr war gut – verdammt gut sogar –, aber Laurins Leute, vermutlich ebenfalls seine besten, waren einfach zu viele. So sicher Svenya wusste, dass Yrr bereit war, ihr
Weitere Kostenlose Bücher