Elbenthal-Saga Bd. 1 - Die Hüterin Midgards
ihren ursprünglichen Platz zurück. Der Spalt im Boden schloss sich, die überall brennenden Feuer erloschen, und die Steine begannen wieder zu leuchten. Fast hätte Svenya erwartet, dass auch die gefallenen Statuen sich wie von selbst wieder aufrichteten und der geborstene Brunnen wieder zusammengesetzt würde. Aber das geschah nicht – die Statuen blieben ebenso am Boden liegen wie der Mann, der sie gerettet hatte.
Hagen ließ sie los, rappelte sich auf und rannte zu ihm hinüber.
»Vater!«, rief er, kniete neben ihm nieder und zog ihn in seine Arme. Der Fremde regte sich nicht, und Svenya bemerkte, dass sein bis eben noch schwarzes Haar auf einen Schlag grau geworden war – nicht hell, wie das Blond Hagens, sondern grau wie Asche. Anders als vor wenigen Sekunden war sein Gesicht jetzt voll der Falten eines alten Mannes.
»Vater!«, rief Hagen noch einmal und presste den Mann gegen seine breite Brust. Die Arme in dem jetzt viel zu weit wirkenden weißen Gewand hingen leblos herab.
Svenya hatte noch nicht viele Tote gesehen – aber wahrscheinlich mehr als die meisten Menschen in ihrem Alter. Das bringt das Leben auf den Straßen, in Parks und unter Brücken so mit sich – besonders im Winter bei Minusgraden. Der Mann in Hagens Armen sah genauso tot aus wie der letzte Obdachlose, den sie erfroren am Ufer der Elbe gefunden und dessen Mantel ihr in den Wochen danach das Leben gerettet hatte.
Obwohl sie Hagen nicht kannte, verspürte Svenya einen Impuls, zu ihm zu gehen und ihm tröstend die Hand auf die Schulter zu legen. Doch kurz bevor sie ihn erreicht hatte, zuckte der Leblose an seiner Brust plötzlich, riss die Augen auf – und stieß Hagen mürrisch von sich.
»Du lebst«, stieß Hagen erleichtert aus und wollte ihm aufhelfen. Aber der andere wand sich aus seinem Griff und rappelte sich aus eigener, wenngleich sichtlich geschwächter Kraft auf die Füße.
»Das habe ich ganz gewiss nicht dir zu verdanken, Sohn«, sagte er – und auch seine Stimme klang jetzt um einiges älter als vorhin. »Bei den Göttern, du hättest damit rechnen müssen, dass sie diese Frage stellt. Die Frage, die niemals gestellt werden darf. Verdammt, nun schau mich doch an. Den Fluch abzuwehren, hat mich ein Drittel meiner Lebenskraft gekostet.«
»Was?«, fragte Svenya erstaunt. »Welche Frage? Etwa die Frage …?«
Doch weiter kam sie nicht. Schneller als sie sehen konnte hatte Hagens Vater die Entfernung zu ihr zurückgelegt, ihr die Hand auf die Stirn gelegt und – diesmal leise und für sie unverständlich – eine weitere Beschwörungsformel gemurmelt.
»So! Wenn du die Frage nach deiner Herkunft und deiner wahren Identität jetzt noch einmal stellst, trifft der Fluch nicht länger Elbenthal, sondern nur noch dich selbst«, raunzte er sie wütend an. »Dann verlierst du deine gerade gewonnene Unsterblichkeit wieder, wirst ein Mensch und vergisst alles, was du über unsere Festung und unser Volk, die Elben, weißt. So wahr ich Alberich heiße!«
»Du glaubst gar nicht, wie egal mir das ist«, zischte Svenya aufgebracht zurück. »Ich war bis eben ein Mensch und hab überhaupt kein Problem damit, es wieder zu werden und den ganzen irren Hokuspokus, den ihr hier veranstaltet, wieder zu vergessen. Ich weiß doch nicht einmal, was genau ich vergessen würde – ich hab’s ja noch nicht einmal wirklich begriffen. Also woher … ?«
Alberich hob einen warnenden Finger und funkelte sie an – und die Geste hatte so viel Macht in sich, dass sie sich nicht traute, die Frage zu Ende zu stellen.
»Wenn du jetzt wieder Mensch wirst und Elbenthal verlässt, wird Laurin dich finden«, sagte er. »Und er wird dich töten! Willst du sterben, Sven’Ya?«
»Nein«, sagte sie zögernd. Wer will schon freiwillig sterben?
»Gut«, sagte Alberich, und er klang schon wieder etwas versöhnlicher. »Dann schlage ich vor, du schweigst jetzt und hörst dir an, was wir dir zu erzählen haben.«
9
Wenn Svenya das Gemach, in dem sie aufgewacht war, für prachtvoll gehalten hatte, war das nichts im Vergleich zu Alberichs Thronsaal: Die Halle war so groß wie die Dresdner Frauenkirche und war, ebenfalls wie diese, mit Emporen umgeben und in über dreißig Metern Höhe von einer enormen Kuppel gekrönt. Die hohen Fenster waren durch ganze Batterien der leuchtenden Juwelen ersetzt. Dort, wo in der Kirche der Altar war, stand hier der Thron. Es war ein gewaltiger Thron – in feinster Steinmetzarbeit aus einem einzigen
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