Elbenthal-Saga Bd. 1 - Die Hüterin Midgards
Svenya zu schützen. Das Licht der in den Wänden sitzenden Steine flackerte. Kerzenleuchter, Statuen und Möbel kippten um, und der wundersame Springbrunnen zerbarst in tausend Stücke, woraufhin das Wasser darin nach oben zur Decke des Raumes fiel. Stoffteile der Möbel und einige der Wandteppiche fingen Feuer und gingen, bespritzt vom Wachs der umstürzenden Kerzen, in helle Flammen auf, während die Lichtjuwelen unter der heftigen Erschütterung gänzlich erloschen. Der Boden riss auf, und der Teil, auf dem Svenya lag, kippte, so dass sie ins Rutschen kam – genau auf den Spalt zu, der sich jetzt nicht weit von ihr auftat und immer größer wurde. Als hätte sich der Schlund der Hölle geöffnet, um sie zu holen. Hagen hechtete zu ihr hin, packte sie am Handgelenk und versuchte, sie von dem Abgrund wegzuziehen, doch die Steinplatte kippte zu stark, so dass auch er ins Rutschen geriet.
Svenya sah schiere Verzagtheit in seinem Gesicht, als hätte er erkannt, dass er nichts mehr tun konnte – und dennoch ließ er sie nicht los, um sich selbst in Sicherheit zu bringen. Die Hysterie, die sie nun von tief innen packte, hätte sie beinahe laut auflachen lassen – hatte sich ihr gerade ein neues Schicksal gezeigt, nur um noch in derselben Minute, in der es sich offenbarte, wieder zu enden?
Unaufhaltsam rutschte sie tiefer und tiefer.
Mit der freien Hand zog Hagen seinen Dolch und rammte dessen Klinge mit aller Macht in den steinernen Boden. Damit stoppte er sie für ein paar wenige Augenblicke, doch die Platte, auf der sie lagen, kippte immer weiter, bis sie schließlich fast aufrecht stand und Svenya, nur noch von Hagen gehalten, frei in der Luft hing. Gegen die Warnung ihrer inneren Stimme blickte sie nach unten – der Abgrund zu ihren Füßen war bodenlos. Aber dazwischen konnte sie mehrere Etagen des darunter liegenden Gebäudes sehen, deren Böden bereits eingebrochen waren. Sie schrie auf und fasste auch mit der zweiten Hand nach Hagens Unterarm. Aber es war klar, dass sie sich so nicht lange würden halten können. Spätestens, wenn die Platte noch weiter kippte, würde Hagen den Griff um seinen Dolch verlieren.
Da ertönte, beinahe noch lauter als der ursprüngliche Donner, aus der schwarzen Tiefe unter ihnen ein Brüllen. Es klang wie das Brüllen eines gewaltigen Tieres – wie das eines Löwen, aber hundertmal lauter. Und es war voller Hass und Boshaftigkeit.
Gegen jede Vernunft blickte Svenya noch einmal in die schwindelerregende Tiefe hinab. Dort, wo eben noch völlige Finsternis geherrscht hatte, konnte sie jetzt mehrfach aufblitzendes Flackern erkennen – wie das, das Raik mit seinem Stab geschleudert hatte … und noch ein einzelnes, sehr viel größeres – flammendes Feuer. Die verbrannte Luft und schwadiger Rauch stiegen zu ihr hinauf und bissen ihr in Nase und Augen. Svenya musste blinzeln – und doch war ihr, als hätte sie dort ganz weit unten gerade die Bewegung eines riesigen Schattens gesehen.
»Hagen!«, schrie sie aus Leibeskräften und voller Angst.
Da donnerte es ein zweites Mal – ebenso gewaltig wie eben, nur näher. Das Portal zu ihrem Gemach flog auf, als hätte eine Explosion es aus seinen Angeln gerissen. Dahinter kam ein Mann zum Vorschein – so groß wie Hagen und vom Anschein her nur ein wenig älter als er. Er schwebte hoch oben in der Luft – das weite, weiße Gewand und das lange, schwarze Haar wallend und wie im Sturm wehend.
»Du Narr!«, brüllte er Hagen an. Dann breitete er die Arme aus und schrie mit machtvoller Stimme:
»Aldinn Eidhr
Dhin Stund enn ukominn.
Taka minn in Stadha af dheri,
Edhr bua finna minn Angr!«
Svenya verstand:
Alter Eid
Deine Stunde ist noch nicht gekommen.
Nimm das Meine an Stelle des Ihren,
Oder bereite dich vor, meinem Zorn zu begegnen .
Blaue und rote Blitze umzuckten den Fremden, und seine Augen waren nach oben verdreht, sodass man jetzt nur noch das Weiß sehen konnte. Noch zweimal wiederholte er die uralte Beschwörungsformel, während Svenyas Hände nass wurden vom Schweiß ihrer Anstrengung und sie an Hagens Unterarm immer weiter nach unten rutschte – dann fiel er plötzlich wie leblos von hoch oben aus der Luft und krachte zu Boden, als sei er von der Faust eines Riesen geschleudert worden.
So schnell, wie sie gekommen waren, waren die um ihn züngelnden Blitze auch wieder verschwunden – doch auch das Beben hatte aufgehört, und die Steinplatte, an der Svenya und Hagen hingen, kippte wieder auf
Weitere Kostenlose Bücher