Elbenthal-Saga Bd. 1 - Die Hüterin Midgards
stummen Geste in den nächsten Raum. Es war eine Mischung aus Büro und Dojo, wobei der Büroteil die wesentlich kleinere Fläche belegte – so als ob Hagen nie lange am Schreibtisch sitzen konnte, ohne zwischendurch zu trainieren.
Mit seinem verbliebenen Auge schaute er sie lange und eindringlich an, und Svenya war sich nicht sicher, ob er erwartete, dass sie etwas sagte. Weil sie aber nicht wusste, was sie sagen sollte, schwieg sie. So standen sie beide eine kleine Ewigkeit lang voreinander, ohne ein Wort zu reden, und die Situation wurde immer unangenehmer. Svenya konnte sich nicht vorstellen, dass Hagen sie zu sich gerufen hatte, um sie zu loben – denn was ihr Training betraf, hatte sie wahrlich kein Lob verdient. Sie brauchte aber ganz bestimmt niemanden, der ihr das sagte. Wenn er sie also schelten wollte, dann sollte er jetzt gefälligst bald damit anfangen, damit sie es hinter sich hatte.
Aber Hagen tat nichts dergleichen. Er schenkte sich aus einem einfachen tönernen Krug Met in einen Pokal, ohne ihr etwas anzubieten, und trank einen Schluck. Einmal mehr fiel Svenya auf, wie verflucht attraktiv er trotz oder vielleicht auch wegen seines düsteren Auftretens war. Ja, er war der attraktivste Mann, den sie jemals gesehen hatte – mit Ausnahme vielleicht von Laurin. Der eine hell, der andere dunkel – aber beide strahlten sie die gleiche edle Wildheit aus, Entschlossenheit und eine Gelassenheit, die nur durch das klare Bewusstsein um die eigene Stärke entsteht.
»Versteht Ihr, warum wir hier sind, Prinzessin?«, sagte Hagen endlich.
Svenya fand es unangemessen, dass er, der mit seinen Tausenden von Jahren so viel älter war als sie, sie mit dem Pluralis Majestatis anredete und sie Prinzessin nannte, denn trotz ihres Palastes fühlte sie sich nicht als solche. »Bitte sagt du, und nennt mich Svenya«, wiederholte sie daher, worum sie ihn schon früher gebeten hatte.
Wieder schaute er sie eine Weile schweigend an, und ein winziges Stück der Finsternis verschwand aus seinem Blick.
»Verstehst du, warum wir hier sind, Svenya?«, formulierte er seine Frage schließlich um.
»Um irgendwelche Monster zu bekämpfen?«, antwortete sie unsicher.
Hagen seufzte. »Wir sind hier, weil man uns aus unserer angestammten Heimat vertrieben hat. Weil wir die Letzten unserer Art sind und es in allen Neun Welten keinen anderen Platz mehr für uns gibt. Wir bekämpfen Monster, weil sie uns vernichten wollen. Uns ausrotten.«
Sie sah den Kummer in seinem Auge, aber was sie wirklich davon abhielt zu fragen, was das alles mit ihr zu tun hatte, war das Bewusstsein, dass sie damit Gefahr lief, den Fluch der Frage auf sich zu ziehen.
Hagen schien ihre Gedanken gelesen zu haben. »Du bist eine von uns. Auch wenn du nie mehr über deine Vergangenheit erfahren darfst, gehörst du zu uns und nimmst unter uns eine ganz bestimmte Stellung ein. Das ist dir, wie dein Training zeigt, aber offenbar nicht nur nicht bewusst, nein: Du scheinst es auch nicht zu glauben.«
»Ich merke schon, dass ich stärker bin«, widersprach sie. »Und als normaler Mensch hätte ich das Training auch erst gar nicht überlebt.«
»Genau das ist das Problem«, sagte er. »Du denkst in menschlichen Maßstäben. Du denkst, deine wahre Natur zeigt sich darin, dass du höher springen und schneller laufen kannst, als ein Mensch es je könnte, und darin, dass deine Verletzungen sehr viel schneller heilen. Doch nicht die Menschen dürfen dein Maßstab sein und deine Erinnerungen an früher; dein Maßstab müssen wir sein, das Volk der Lichtelben. Und unter uns bist du eine der Mächtigsten überhaupt. Du versagst in deinen Aufgaben und verlierst deine Kämpfe, weil du glaubst, dass du ohnehin keine Chance hast, weil du irrtümlicherweise denkst, Yrr sei dir überlegen. Dabei besitzt sie nur einen Bruchteil deiner Kraft und Schnelligkeit.« Hagen sah Svenya eindringlich an. »Nicht sie ist deine wahre Gegnerin in den Sparringskämpfen und auch nicht Wargo, sondern du selbst. Deine innere Haltung. Dass du akzeptierst, minderwertig zu sein und schwach. Du kannst dir nicht vorstellen, gegen sie zu siegen, und weil du es dir nicht vorstellen kannst, siegst du auch nicht.«
Svenya schnaubte verärgert. Mit Schelte konnte sie leben, mit abstraktphilosophischen Sprüchen nicht. »Ich stelle mir also nur vor zu verlieren, soso«, sagte sie schnippisch.
»Nein«, entgegnete Hagen. »Das Verlieren geschieht tatsächlich, aber es ist nur die Konsequenz deiner
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