Elbenthal-Saga Bd. 1 - Die Hüterin Midgards
halten.
Mit der ganzen Kraft, die aufzubringen sie in der Lage war, stach sie zu. Doch der einzige Effekt, den ihr Angriff hatte, war, dass die Kreatur überhaupt erst auf Svenya aufmerksam wurde. Einen winzigen Lidschlag später bockte der Wyrm auf wie ein Hengst – nur mit sehr viel mehr Kraft … schneller und höher. Svenya wurde hoch in die Luft geschleudert wie von einem Katapult. Dabei wurde sie so heftig herumgewirbelt, dass sie drohte, die Orientierung zu verlieren. Sie beschloss, sich nicht auf ihre Augen zu verlassen, um die herum sich alles drehte – Höhlendecke, Wände, Boden –, sondern nur noch auf ihre Instinkte. Ihr Körper wusste, wo oben und unten war, wenn sie ihn nicht mit ihrem Gesichtssinn verwirrte. Und so drehte sie sich instinktiv in der Luft und landete etwa sieben Meter rechts von dem Wyrm sicher auf den Füßen – leichtfüßig wie eine Katze. Wo eben noch Verzweiflung war und Verwirrung und Verärgerung über Hagens Verhalten, war jetzt etwas, das Svenya in ihrem ganzen Leben noch nicht gespürt hatte: Euphorie und Siegesgewissheit. Das Vieh zu bekämpfen, war vielleicht hart und ganz gewiss schmerzhaft – aber es war durchaus möglich. Zu sehen, wie die anderen Elben, allesamt Krieger, von der Bestie nahezu hilflos zur Seite geschleudert wurden, während sie auf den Beinen blieb, gab Svenya die Zuversicht, die ihr so lange gefehlt hatte – die Zuversicht, es wirklich schaffen zu können.
Svenya rannte los und griff dabei eine Lanze vom Boden auf, die einer der anderen Elben im Kampf fallen gelassen hatte. Die Laufbahn des Wyrm war schwer zu berechnen – er rannte wie eine in die Enge getriebene Ratte wild hin und her und mähte die Krieger, die sich ihm in den Weg stellten, um wie Gras. Ein Wunder, dass keiner von ihnen ernsthaft verletzt zu sein schien. Die Bestie hatte bisher noch nicht ein einziges Mal von ihrem Gift oder ihren mörderischen Kiefern und den darin sitzenden schwertlangen Hauern Gebrauch gemacht. Svenya folgte ihr erst zu der einen Wand, dann zur anderen und anschließend wieder zurück zum Tor. Ehe sie ihn jedoch einholen konnte, schlug der Wyrm jedes Mal einen schnellen Haken und wechselte die Richtung – ganz so, als suchte er nicht den Kampf oder Beute, sondern einen Fluchtweg. Schließlich entdeckte er die Galerie und steuerte zielstrebig darauf zu.
Mit einem Satz, den Svenya ihm bei seinem Gewicht nicht zugetraut hätte, sprang er nach dort drüben und richtete sich auf.
Das war ihre Gelegenheit, an seine Unterseite zu kommen!
Svenya rannte an ihm vorbei unter die Galerie, und ihre Augen suchten mit Windeseile eine Stelle, wo sie die Spitze der Lanze zwischen die Schuppen fädeln konnte. Doch gerade als sie einen Punkt gefunden hatte und mit dem Speer ausholte, sprang das Biest in die Höhe. Svenya konnte es von diesem Winkel aus nicht sehen, aber es musste Halt gefunden haben am Geländer der Galerie und sich daran weiter hochgezogen haben. Auf jeden Fall war es verschwunden. Svenya eilte zu der Stelle, wo der Wyrm eben noch gestanden hatte und blickte nach oben. Sie sah gerade noch das Schwanzende über das Geländer hinweg verschwinden.
»Ihm nach!«, rief Hagen, und Svenya wusste sofort, dass er sie meinte. Aber zehn Meter? So hoch war sie noch nie gesprungen – und zum Klettern sah sie hier keinen Ansatz, zumal sie, wie sie aus dem Training nur zu gut in Erinnerung hatte, im Klettern ganz besonders miserabel war.
»Spring!«, rief Hagen – und Svenya sprang … so, als verliehe ihr sein Befehl Flügel … oder waren es seine Stimme und sein Vertrauen in sie? Was auch immer es war, sie schaffte es, mit den Händen das Geländer zu packen und zog sich daran nach oben. Einer der Elben, die die Monitore überwachten, lag besinnungslos am Boden, ein anderer, der daneben an der Wand saß und sich mit schmerzerfülltem Gesicht die Rippen hielt, deutete in den Gang hinter sich.
Wild entschlossen, den Wyrm in dem schmalen Tunnel, der ihm keinen Raum zum Manövrieren ließ, zu stellen, rannte Svenya hinein. Ihn zu besiegen, bedeutete für sie mehr als das Offensichtliche – nämlich ihn daran zu hindern, noch mehr Schaden anzurichten oder die Menschheit vor ihm zu bewahren … oder zu beweisen, was sie trotz des Desasters beim Training zu leisten fähig war – es war für Svenya die Chance auf ein Zuhause. Dabei erkannte sie eine uralte Wahrheit, die so brutal war wie zutreffend: Für sein Zuhause muss man bereit sein, einen Feind
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