Elbenthal-Saga Bd. 1 - Die Hüterin Midgards
würden sie aus Angst, Profitgier oder reiner Vergnügungssucht jagen und zur Strecke bringen. Deshalb habe ich eine Gruppe Heger abgestellt, die sich um die Bären kümmern und dafür sorgen, dass sie weitab von den Straßen und Wanderwegen im Verborgenen bleiben.«
Mit einem verstohlenen Blick betrachtete Svenya Hagens Gesicht. Es war ungewöhnlich sanft. Sie hatte heute so viele neue und vor allem völlig unerwartete Seiten an ihm entdeckt, und plötzlich verspürte sie die Sehnsucht, ihn zu berühren … seine Hand zu streicheln … oder seine Wange. Was war das für ein seltsames Gefühl? War das Verlangen? Oder vielleicht gar Verliebtheit? Doch ehe sie sich darüber klar werden konnte, ohne sicher zu sein, ob sie das überhaupt wollte, oder ihr Bedürfnis, ihn zu berühren auch ganz gegen ihren Verstand in die Tat umsetzen konnte, räusperte er sich, erhob sich und sagte: »Genug Erholung für heute. Wir müssen zurück. Die Pflicht ruft.«
Der Bär sprang auf, schleckte noch einmal seine Hand und trottete dann in den dichteren Teil des Waldes zurück. Hagens Gesicht wurde wieder ernst und unnahbar.
Svenya wusste nicht warum, aber plötzlich war sie furchtbar wütend auf ihn. Auf ihn und sein verdammtes Pflichtbewusstsein. Und das verwirrte sie noch mehr. Wie zur Hölle konnte man auf jemanden, nach dessen Berührung man sich gerade eben noch so sehr gesehnt hatte, dass es fast schon wehtat, mit einem Mal so wütend sein, dass man ihm am liebsten ins Gesicht schlagen würde?
Er schritt in Richtung Höhle, und sie stapfte ihm hinterher – die Fäuste geballt.
»Das war aber noch nicht die ganze Belohnung«, sagte er, ohne innezuhalten oder sich zu ihr umzudrehen.
»Nein?«, fragte sie – und es gelang ihr nicht, ihre Mürrischkeit aus ihrer Stimme zu nehmen.
»Nein«, sagte er. »Als ich vorhin in dem Wyrm war, habe ich mitbekommen, dass du versucht hast, das Vieh von mir zu wälzen.«
»Und?« Jetzt klang Svenya sogar ganz bewusst und gerne schnippisch.
»Das bedeutet entweder, du hast geglaubt, ich lebe noch, und hast ihn von mir wälzen wollen, damit er mich nicht erdrückt, oder du hast geglaubt, ich sei tot, und du wolltest meine Leiche nicht länger als nötig unter ihm liegen lassen.«
»Vielleicht wollte ich ja auch nur an die Nachricht«, gab sie kühl zurück.
»Ja, vielleicht«, erwiderte Hagen nachdenklich. »Das wiederum würde bedeuten, dass es dir über die Maßen wichtig war, die Nachricht umgehend zu finden und nach Elbenthal zu bringen. So wichtig, dass du Wargo sogar unter Tränen gebeten hast, dir schnell zu helfen. Eine Loyalität gegenüber unserem Volk hätte sogar noch sehr viel mehr eine Belohnung verdient als nur die Sorge um mich.«
»Und was ist jetzt mit dieser Belohnung, von der Ihr sprecht?« Svenya hasste Hagen ein wenig dafür, dass er sie durchschaut hatte, aber noch mehr verachtete sie sich selbst – dafür, dass ihre Neugier ihre Wut verrauchen ließ.
»Die Wahrheit, Svenya«, setzte Hagen an und klang dabei seltsam betrübt.
»Welche Wahrheit?«
»Die Wahrheit über den Test am Ende deines Trainings.«
25
Den ganzen Ritt zurück nach Elbenthal versuchte Svenya mehr aus Hagen herauszubekommen, aber er blieb, wie er nun einmal war: eisern. Bei ihrer Ankunft flogen sie unter den wachsamen Augen der Wächter über die Ringmauern hinweg. Svenya fiel auf, dass die äußeren beiden Mauern mit ihren nach außen ragenden Wehrtürmen und den kompliziert nach innen verzweigten Verbindungsgängen und -brücken den gleichen Grundriss hatten wie das Emblem auf ihrem Handrücken. Die Festung im exakten Zentrum der Mauern flößte ihr nach wie vor große Ehrfurcht ein. Statt noch höher zu steigen, senkte Hagen den Flug Stjarns jetzt zum Fuß des gewaltigen Turmes. Sie erreichten ein Gittertor, das in etwa so hoch war wie ein fünfstöckiges Gründerzeithaus und bestimmt fünfundzwanzig Meter breit. Es war, außer von einem Hundertertrupp Krieger, von zwei je zwölfschüssigen Boden-Luft-Raketenwerfern und vier Flak-Geschützen gesichert. Daneben befand sich ein kleineres Tor, das jetzt, da der wachhabende Offizier Hagen herannahen sah, schnell geöffnet wurde, damit der General den Flug seines Greifs nicht bremsen musste. Stjarn setzte in vollem Tempo auf der Schwelle auf, legte die weiten Schwingen an und galoppierte auf dem Boden weiter – die Klauen seiner Löwen- und Adlerkrallen über den steinernen Boden schrammend.
Der Gang hinter dem Tor war so lang
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