Elbenthal-Saga Bd. 1 - Die Hüterin Midgards
Oegis zurück. »Was erwartest du, Hagen? Mitleid? Für ein Los, das nichts ist im Vergleich zu dem meinen? Reue? Für ein Verbrechen, das begangen wurde, ehe ich überhaupt geboren war? Wiedergutmachung? Womit? Wie du selbst gerade sagtest, besitze ich nichts, womit ich bezahlen könnte. Hast du meine Ruhe nur deshalb gestört, um mich daran zu erinnern?«
»Ich bin hier, um dich der Hüterin zu zeigen«, erwiderte Hagen.
Der Drache beugte sich herab und legte seinen großen Kopf auf den Felsboden, um Svenya durch die Gitterstäbe hindurch in die Augen zu schauen. Sein Blick war kalt – und hatte zugleich etwas Hypnotisches.
»So so«, sagte er. »Die Hüterin.« Er sog die Luft durch seine riesigen Nüstern ein. »Noch ist sie nicht die Hüterin.«
»Bald wird sie es sein.«
»Du scheinst dir dessen sehr sicher zu sein, Bruder Einauge.«
»Ich trage nicht einen Funken Zweifel im Herzen.«
Oegis verzog den Mund zu einem Grinsen. »Den gibt es in deinem Herzen nie, Hagen. Aber was ist mit ihrem Herzen? Da gibt es jede Menge Zweifel. Sogar einen ganzen Berg von Zweifeln – das kann ich in ihren Augen sehen, auch ohne meine Gabe der Allwissenheit.«
»Sie wird sie überwinden.«
»Vielleicht«, räumte der Drache ein. »Aber letztendlich wird sie scheitern.«
»Letztendlich scheitern wir alle«, setzte Hagen düster dagegen.
»Wozu das dann alles?«
»Aus dem gleichen Grund, aus dem du dich nach der Freiheit sehnst, obwohl du weißt, dass sie dir den sicheren Tod bringen wird«, antwortete Hagen. »Um bis zum finalen Scheitern, dem Tod, Teil der Kraft zu sein, die den Lauf der Welt bestimmt.«
»Hehre Ziele sind das, Bruder Einauge«, sagte Oegis, ohne den Blick von Svenya abzuwenden. »Ich für meinen Teil will nur meine Ruhe.«
»Stimmte das«, widersprach Hagen, »wärst du hier unten glücklich und zufrieden.«
Oegis seufzte. »Was ist mit ihrer Freiheit? Sie weiß nicht, wer sie ist, und soll tun, was ihr von ihr wollt.«
»Das ist ihr Schicksal.«
»Es ist das Schicksal, das ihr für sie bestimmt habt«, hielt der Drache dagegen. »Aber welches Schicksal würde sie für sich selbst wählen, wenn sie die Wahrheit wüsste? Ich meine, die ganze Wahrheit, nicht nur den Teil, mit dem ihr sie gefüttert habt.«
»Sie würde tun, was sie immer tut: das Richtige«, sagte Hagen voller Überzeugung.
»Richtig ist immer eine Sache des Standpunkts«, sinnierte der Drache kryptisch. »War es richtig von Odin, Loki und Hoenir, meinen Onkel Otur nur wegen seiner Haut zu erschlagen? War es richtig von meinem Großvater Hreidmar, sie dafür gefangen zu nehmen und als Wergeld den Schatz deines Vaters zu verlangen? War es richtig von Loki, die Dunkelelben deshalb in den Krieg gegen deinen Vater zu führen? War es richtig von Alberich, den Schatz mit einem Fluch zu belegen, so dass er jedem, der ihn besitzt, den Tod bringt? War es denn richtig, dass der Fluch die Götter nicht getroffen hat, weil sie den Schatz direkt an meinen Großvater weitergegeben, also nie besessen haben? War es richtig, dass daraufhin mein Großvater von meinem Vater Fafnir ermordet wurde, Fafnir von Siegfried und Siegfried wiederum von dir – und dass ich, obwohl ihr den Schatz jetzt wiederhabt, hier in Ketten liege? Sag mir, Elb, was bedeutet es, das Richtige zu tun?«
Doch ehe Hagen darauf antworten konnte, fuhr der Drache fort:
»Spar dir die Antwort. Wir alle wissen, dass das, was richtig ist und was falsch, immer von denen entschieden wird, die die Macht dazu haben. Diese Macht aber gebt ihr der Schwanentochter nicht. Sie muss das für das Richtige halten, das ihr für das Richtige haltet.«
Dann wandte sich der Drache wieder Svenya zu.
»Weißt du, es ist schon eine Krux«, sagte er, und Svenya hätte schwören können, dass er dabei diabolisch grinste. »Ein Fluch zwingt mich dazu, dir jede Frage zu beantworten, aber ein anderer Fluch hindert dich daran, mir die einzige Frage zu stellen, deren Antwort dich wirklich interessiert.«
»Welche Frage?« Svenya stellte sich unwissend.
»Die Frage nach deiner Herkunft natürlich.«
»Ach die«, sagte sie leichthin. »Die Antwort darauf interessiert mich nicht, selbst wenn du sie tatsächlich wüsstest – was ich mir übrigens nicht vorstellen kann. Du magst ein Drache sein, aber für mich klingst du eher wie ein alter Mann, der sich gerne selbst reden hört.«
Oegis gab ein seltsames Geräusch von sich. Es dauerte einige Momente, ehe Svenya realisierte, dass es ein Kichern
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