Elbenthal-Saga Bd. 1 - Die Hüterin Midgards
treten. Ich hoffe, das glaubst du mir.«
Sein Blick war dabei so bestürzt, dass sie wusste, dass er die Wahrheit sprach.
»Unser Volk hegt diese Art von Empfindung nicht, die die Menschen Scham nennen«, sagte er. »Wir ziehen uns nicht nur aus, um … äh … du weißt schon. Es ist einfach unsere Art, der Natur näher zu sein.«
Ob sie ein Bad brauchte, konnte sie in ihrer Verwirrung nicht sagen, aber auf jeden Fall brauchte sie jetzt eine Abkühlung. Hagens ungezwungene Nacktheit hatte sie innerlich aufgewühlt – auf eine Weise, die ihr neu war.
»Ich werde mich entfernen«, sagte er. »So dass ich dich nicht sehen kann und du dich in aller Ruhe säubern kannst.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ er den See und schritt barfuß in den Wald hinein davon. Svenya schaute ihm nach. Ihr Herz raste immer noch, und ihr Atem wurde nur langsam ruhiger. Erst als sie absolut sicher war, dass er weit genug weg war, entmaterialisierte sie ihre Waffen und ihre Rüstung. Jetzt konnte sie die angenehme Nässe des Wassers spüren und ging tiefer in den See, um zu schwimmen. Sie hatte sich selbst noch nie so erhitzt erlebt – und sie war sich ihres eigenen Körpers niemals so bewusst gewesen wie jetzt, nachdem sie den von Hagen gesehen hatte. Das Leben auf der Straße hatte ihn zäh gemacht und sehnig, wenn auch auf eine attraktive Weise, aber das Training in der Festung hatte ihre Muskeln zusätzlich gestärkt. Svenya fragte sich, wie sie es sich bereits bei Hagen gefragt hatte, ob ihr vollkommener Körper Ergebnis ihres harten Trainings war oder das Erbe ihrer Rasse. Jetzt, da sie darüber nachdachte, fiel ihr auf, dass alle Elben, die ihr bisher begegnet waren, auf die eine oder andere Weise wunderschön waren … und ihr fiel auf, dass sie sich inzwischen auch selbst als schön empfand. Hätte ihr Anblick auf Hagen die gleiche Wirkung gehabt wie seiner auf sie? Sie runzelte die Stirn bei diesem Gedanken und tauchte unter. Mit kräftigen Zügen legte sie die vier oder fünf Meter bis zum Grund des Weihers zurück und war überrascht, wie wenig sie das anstrengte und wie klar das Wasser hier war. Sie konnte die Fische sehen und die Pflanzen. Anders als früher fühlte sie keinen Druck in den Lungen und auch nicht das Bedürfnis, gleich wieder Luft schnappen zu müssen. Wie lange würde sie wohl unter Wasser bleiben können? Sie probierte es aus und schwamm am Boden entlang weiter. Minuten vergingen, ohne dass sie den Drang verspürte, wieder auftauchen zu müssen. Minuten, die ihr die Gelegenheit gaben, sich wieder zu fassen und ihre Gedanken auf ihr Training zu lenken. Ab heute würde alles besser werden. Sie hatte ihren Mut vor allem sich selbst bewiesen, und sie würde versuchen, diese Zuversicht mit in das Training zu nehmen, um nun auch den anderen zu beweisen, wozu sie fähig war.
Svenya tauchte auf, schwamm ans Ufer und stieg aus dem Wasser. Binnen eines Sekundenbruchteils war sie wie von Geisterhand trocken und materialisierte ihre Rüstung wieder. Aus der Richtung, in die Hagen verschwunden war, hörte sie seine Stimme.
Mit wem redete er? Etwa mit sich selbst?
Svenya schlich auf Zehenspitzen zwischen den Bäumen hindurch über einen kleinen Hügel. Ihre Hand hatte sie instinktiv am Schwert. Doch ihre Finger lösten sich wieder, als sie sah, mit wem Hagen da redete. Es war ein Bär! Ein ausgewachsener Braunbär. Er lag auf dem Rücken im Gras und ließ sich von Hagen die fellige Brust kraulen. Obwohl das Tier in Svenyas Augen riesig war, wirkte es neben dem hochgewachsenen Hagen so klein und so zahm wie ein Schoßhündchen.
»Komm ruhig näher«, sagte er, ohne sich zu Svenya umzudrehen. »Honigschlecker wird dir nichts tun.«
»Ähm … weiß Honigschlecker das auch?«, fragte sie unsicher, trat aber doch zu ihnen hin. Der Gedanke, einen echten Bären zu streicheln, war einfach zu verlockend. Als Svenya neben den beiden in die Hocke ging, drehte der Bär seinen Kopf in ihre Richtung und leckte ihre Hand mit einem sanften Brummen. Sie wunderte sich darüber, dass sie keine Angst hatte. Das musste an Hagens Nähe liegen. Wenn er hier war, konnte ihr nichts geschehen. Sie streckte die Hand aus und fühlte den weichen, von der Morgensonne gewärmten Pelz unter ihren Fingern.
»Ich wusste nicht, dass es hier im Erzgebirge wieder Bären gibt«, sagte sie leise, um Honigschlecker nicht in seiner verspielten Ruhe zu stören.
»Es gab sie immer«, sagte Hagen. »Die Menschen wissen nur nichts davon. Sie
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