Elbenthal-Saga Bd. 1 - Die Hüterin Midgards
nördliche Richtung. Woher sie auf einmal die Himmelsrichtung bestimmen konnte, wusste Svenya nicht – sie war sich einfach sicher. So als hätte ihre neue Natur einen ganz natürlichen Kompass.
Schon bald hatte sie den dichten Wald hinter sich gelassen und flog über weite, selbst im fahlen Mondlicht üppig erscheinende Felder hinweg, bis sie endlich, weiter im Osten, eine fast parallel zu ihrem Kurs verlaufende silbrig glitzernde Schnur sah. Das konnte nur die Elbe sein. Erleichtert schwenkte Svenya mit der Flemys in Richtung des silbrigen Bands hinüber, immer weiter, so lange, bis sie den Fluss erreichte. Über das Wasser hinweg flog sie auf die Stadt zu.
Svenya seufzte tief, so traumhaft schön war der Anblick des ihr vertrauten Gewässers, und ihr fiel jetzt erst auf, wie sehr sie den Fluss in der Festung unter der Erde vermisst hatte. Ohne auf die Tarnung zu verzichten, deaktivierte Svenya den Panzer, um die frische Nachtluft besser auf ihrer Haut spüren zu können, und schon nach wenigen Minuten war der größte Teil der Anspannung von ihr abgefallen.
Bald darauf sah Svenya die Lichtglocke vor sich, die die eine halbe Million Einwohner zählende Stadt in den nächtlichen Horizont warf – und eine leichte Wehmut überfiel Svenya bei dem Gedanken, auch ihr vermutlich für immer den Rücken zukehren zu müssen. Sie mochte nicht viele gute Erinnerungen an ihre Vergangenheit und an die meisten Menschen haben, mit denen sie es zu tun gehabt hatte; aber die Stadt selbst war immer gut zu ihr gewesen … mit ihren Brücken, Seitengässchen und Parkanlagen. Es war schon seltsam zu erkennen, dass sie nie ein wirkliches Zuhause, aber immer eine Heimat gehabt hatte. Aber sie würde eine neue Heimat finden … und ein neues Zuhause, dessen war sie sich sicher. Nun ja, vielleicht nicht sicher, aber entschlossen.
Sie folgte dem sich schlängelnden Fluss in die Stadt hinein und konnte merken, dass das zunehmende Licht der Flemys Schwierigkeiten bereitete. Immer öfter musste sie ihren Kurs korrigieren. Aber das Tier hatte jetzt auch bei Weitem genug gelitten, und Svenya entschied, es wieder freizulassen. So, wie auch sie jetzt wieder frei war. Svenya flog kurz vor der Altstadt ans Terrassenufer und ließ die Fledermaus dort landen. Sie sah sich sorgfältig um, um sicherzustellen, dass niemand da war, der sehen konnte, wenn sie die Tarnung aufhob. Erst dann stieg sie ab.
»Flieg nach Hause«, sagte sie leise. »Ich bin sicher, du kennst den Weg.«
Das ließ sich die Flemys nicht zweimal sagen. Sie sprang von der Erde ab in die Höhe und raste in Richtung Süden davon. Svenya schaute ihr lange hinterher. Dann blickte sie zu Boden. Es war schon ein seltsames Gefühl zu wissen, dass nur einige Dutzend Meter unter ihr eine riesige, unterirdische Festung lag … in einer gewaltigen Höhle, von der die Menschen nichts wussten … und dass dort seit Jahrhunderten völlig unbemerkt Tausende von Lichtelben lebten … die Letzten ihrer Art … der Rest eines einst stolzen und mächtigen Volkes, der sein Dasein im dunklen Exil fristen musste.
Plötzlich hatte Svenya das Gefühl, sie im Stich gelassen zu haben. Aber das Unbehagen dauerte nur einen kurzen Moment. Der Preis, den die Elben dafür verlangt hatten, dass sie eine der Ihren würde, war einfach zu hoch.
Svenya drehte sich um, und ihr Blick fiel auf das Logo des Dresden Hilton Hotels. Erleichtert atmete sie aus. Das war genau das, was sie suchte: eine amerikanische Kette. Ja, vielleicht würde sie nach Amerika gehen. Amerika war groß. Dort konnte man sich mit Sicherheit gut verstecken.
Für die Zeit, die sie brauchen würde, um alles zu organisieren, brauchte Svenya jedoch eine Waffe. Auf ihre Schwerter konnte sie sich nicht verlassen, und die Pistole war zu schwach. Sie wünschte, sie hätte doch eine oder zwei aus ihrem Arsenal in Elbenthal mitgenommen. Aber sie wusste, wo sie eine andere finden konnte.
31
Dass sie jemals an diesen Ort zurückkehren würde, hätte Svenya nicht gedacht. Der bloße Gedanke daran machte ihr Angst, und ihr Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen – aber sie brauchte eine Waffe, wenn sie entkommen wollte.
Scheiße, jetzt reiß dich zusammen, befahl sie sich. Dir passiert schon nichts. Du gehst jetzt da rein, holst dir eine Knarre, und dann bist du wieder raus. Wahrscheinlich läuft er dir nicht mal über den Weg.
Trotzdem fiel ihr jeder Schritt schwer. Dort hineinzugehen war die schwerste Prüfung bislang.
Das Heim,
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