Elbenthal-Saga Bd. 1 - Die Hüterin Midgards
aus dem sie vor drei Jahren geflohen war, sah noch immer genauso heruntergekommen aus wie damals. Charlie wirtschaftete offenbar auch heute noch jeden einzelnen Euro, den er an staatlichen Fördermitteln und EU-Subventionen kassierte, in die eigene Tasche. Charlie … und auf einmal waren sie alle wieder da, die Gefühle von damals. Die Angst, wenn sie nachmittags von der Schule hierher zurückgekommen war … sein nach Bier stinkender Atem, seine immer schmutzigen Hände, seine Spucke, seine nach Pisse stinkenden Unterhosen …
Unter all den anderen perversen Rollen, die er spielte, war Charlie auch ein Waffenfetischist. Auf dem Dachboden hatte er sich einen Raum komplett eingerichtet und ausgestattet nur mit Militär-Memorabilien … Sturmhelmen, Hakenkreuzfahnen, SS-Uniformen, Orden, Medaillen, Bajonetten – und jeder Menge Schusswaffen. Einige davon aus dem Zweiten Weltkrieg, aber auch neue, sehr viel größere Kaliber.
»Wenn’s knallt, und das dauert nicht mehr lange, glaub mir, dann bin ich vorbereitet«, hatte er immer gesagt, wenn er sie dort hinaufgeschleppt hatte. Dass es ihm weniger darum gegangen war anzugeben, war Svenya schon immer klar gewesen. Nein, er hatte sie und die anderen Mädchen mit seinem Geschwätz einschüchtern wollen, um zu garantieren, dass sie schwiegen.
Svenya suchte die Ecke des Hauses mit der Regenrinne und kletterte daran mühelos die drei Stockwerke nach oben bis auf das Dach. Dort schlich sie über die Ziegel und suchte nach dem richtigen Fenster.
Verdammt! Es brannte Licht. Aber vielleicht hatte er nur vergessen, es auszuschalten. Sie huschte hinüber – ein Schatten in der Dunkelheit. Für einen Moment überlegte Svenya, ob sie die Tarnung aktivieren sollte, aber was sollte das bringen? Entweder er war in dem Raum, und dann würde er auch so mitbekommen, wenn sie das Fenster öffnete, oder er war nicht da, und dann machte es keinen Unterschied, ob sie sichtbar war oder nicht.
Gerade als Svenya hineinspähen wollte, hörte sie etwas.
Ein Schluchzen.
Svenya kannte die Verzweiflung, die darin mitschwang.
Nur zu gut.
Das Schwein war hier und hatte eines der Mädchen dabei.
Bevor sie Zeit hatte, darüber nachzudenken, was sie jetzt tun sollte, war sie auch schon gesprungen. Mit den Absätzen ihrer Stiefel zertrümmerte sie die Glasscheibe und landete mitsamt den um sie herum herabprasselnden Scherben auf dem Dielenboden. Noch im Abfedern erfasste sie die Situation:
Charlie lag mit heruntergelassener Hose auf einem Sofa. Einsneunzig groß, militärischer Kurzhaarschnitt, trotzdem Ringe in den Ohren. Das Mädchen kniete davor. Er hielt ihren Kopf mit beiden Händen, die mit Runen tätowiert waren – die, wie Svenya jetzt, da sie sie lesen konnte, wusste, nicht den geringsten Sinn ergaben. Das Mädchen, gerade mal vierzehn und natürlich ausgesprochen hübsch, wehrte sich – so wie Svenya sich immer bis zuletzt gewehrt hatte.
Der Krach ließ Charlie fluchend hochfahren.
»Was …?!«, brüllte er und schaute sich um.
Sein Blick fand Svenya, und aus seiner zornigen Miene wurde ein heimtückisches Grinsen.
»Du?« Offenbar hatte er sie sofort wiedererkannt. »Kommst du zurück für einen Nachschlag? Das gefällt euch wohl doch? Ihr ziert euch immer bloß wegen der Show. Aber in Wirklichkeit …«
»Halt die Fresse, Charlie«, knurrte Svenya drohend. »Halt einfach die Fresse und lass das Mädchen gehen.«
»Die? Gehen lassen? Bist du verrückt? Die ist neu und heiß drauf, geknackt zu werden. Und jetzt bist du da und kannst ihr zeigen, wie es geht. Ich hatte schon lange keinen Dreier mehr.« Er machte sich nicht einmal die Mühe, seine Hose hochzuziehen.
Ich kann deinen Hass spüren, Hüterin, hörte sie da Blodhdansrs Stimme flüstern. Lass ihm freien Lauf und gib mir sein Blut. Lass mich das Werkzeug deiner Wut sein. Bestrafe ihn .
Auch wenn ihre Rage vorher beinahe übergekocht wäre und sie kurz davor stand, etwas zu tun, das sie später bereuen würde, brachte das gierige Flüstern der Klinge Svenya wieder ein wenig zur Vernunft.
»Geh!«, sagte sie zu dem Mädchen. »Pack deine Sachen und hau von hier ab. Für immer.«
Das Mädchen sah sie mit ihren großen verheulten Augen an, nickte dann und wollte davonlaufen. Aber Charlie packte sie am Haar und riss sie zurück.
»Die geht nirgendwo hin«, blaffte er.
Überlass ihn mir!, schrie Blodhdansr.
»Sei still«, sagte Svenya zu dem Schwert und dem Heimleiter zugleich.
Charlie griff unter eines der
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