Elbenthal-Saga Bd. 1 - Die Hüterin Midgards
mit Erinnerungen nach zwei, drei oder vier Jahrhunderten passieren würde? Für jetzt war es ohnehin ratsamer, dass sie sich mit der näheren Zukunft beschäftigte. Vom Concierge hatte sie eine Liste der Abflugzeiten für New York, Toronto, Caracas, Kapstadt und Sydney erhalten. Für alle diese Destinationen, mit Ausnahme von New York, würde sie Flugtickets mit ihren Kreditkarten kaufen … um Hagen, der die Karten mit Sicherheit überprüfen lassen würde, auf eine falsche Fährte zu locken. Nur den Flug nach New York würde sie direkt bar bezahlen – und auch nehmen. Sie hatte sich erkundigt – für eine normale Einreise brauchte sie kein Visum.
Svenya. Sie freute sich auf New York. Die Stadt hatte sie schon immer sehen wollen – das früher aber als nie erfüllbaren Traum abgetan. Die Stadt war so riesig, dass Untertauchen dort kein Problem sein dürfte. Sie würde Englischkurse belegen, um sich schneller zurechtzufinden, vielleicht sogar einen Privatlehrer nehmen, und dann würde sie sich einen Job suchen und ihr Leben von Neuem beginnen … eigentlich überhaupt erst beginnen, dachte sie und lächelte bei dem Gedanken. Das war das erste Mal, dass Svenya über einen künftigen Beruf nachdachte. Früher hatte es diese Option für sie nie gegeben – wenn man einmal von Topfspülen und Kellnern absah.
Was würde mir eigentlich gefallen? In einem Büro zu arbeiten oder lieber körperlich? Karriere zu machen oder einfach nur so viel zu arbeiten, dass ich die monatlichen Kosten decken kann?
Sie seufzte. Es war ein beruhigender Gedanke, dass vor dem Hintergrund ihrer Unsterblichkeit keine dieser Entscheidungen endgültig sein musste. Plötzlich bedeutete, das eine zu tun, noch lange nicht, dass sie das andere ausschließen musste. Außerdem hatte sie ihre ganz besonderen Fähigkeiten noch gar nicht berücksichtigt. Sie konnte sich zwar nicht vorstellen, Bankräuberin zu werden oder Einbrecherin, aber was sprach dagegen, Drogendealer und anderes Gesocks zu berauben – so wie sie heute Charlie beraubt hatte? Svenya musste beinahe kichern bei der Vorstellung, als maskierte und alles andere als selbstlose Schurkenjägerin unterwegs zu sein, doch schon im nächsten Moment blieb ihr das Kichern im Hals stecken. Im Grunde genommen war das nicht mehr weit entfernt von dem Schicksal, das Alberich und Hagen für sie vorgesehen hatten – bloß dass sie es für Elbenthal nicht für Kohle hätte tun sollen, denn davon gab es dort ja mehr als genug.
Aber nicht zum Preis auch nur eines unschuldigen Lebens!
Sie musste an Oegis denken … und an Jahrhunderte in Gefangenschaft. Was würde passieren, wenn er zu groß und zu mächtig würde, als dass ihn Alberichs Magie noch länger gefangen halten konnte? Wäre das der Untergang Elbenthals? Der Gedanke erfüllte Svenya mit Traurigkeit. Würde sie Oegis dann doch töten? Aus Rache, weil er es dann verdient haben würde? Und hieß das im Umkehrschluss, dass sie schuld war, wenn die Lichtelben untergingen, weil sie es nicht verhindert hatte?
Nein! Schuld wäre Oegis … oder vielleicht auch Alberich, weil er ihn gefangen gehalten und damit erst zu dem gemacht hat, was er heute ist. Mir die Verantwortung dafür zu übertragen, ist nicht nur nicht fair, es ist auch nicht richtig!, entschied sie trotzig.
Aber was würde passieren, wenn sie nach Oegis’ Ausbruch tatsächlich aufeinanderträfen? Wären sie dann Feinde? Vermutlich. Und würde sie ihn besiegen können? Svenya bezweifelte es. Doch sie wusste auch, dass sie es zumindest versuchen würde. Aber spielte das überhaupt eine Rolle? Wenn Oegis Elbenthal vernichten würde, hätten Laurins Dunkelelben freien Zugang zum Tor nach Alfheim. Sie würden es öffnen und mit ihren Armeen über Midgard herfallen.
Spätestens dann ist es zwar ebenfalls nicht meine Schuld, aber ganz sicher mein Problem . Aber wenn das eine echte Gefahr ist, sollen doch Alberich oder Hagen ihn töten .
Sie überlegte hin und her und kam zu dem Schluss, dass Hagen und Alberich das wohl auch tun würden, jetzt, da sie weg war … oder sie würden eine andere zur Hüterin Midgards machen … eine, die keine Skrupel haben würde, den Drachen zu ermorden, ehe er etwas verbrochen hatte.
Yrr!
Ganz sicher würde die nicht eine Sekunde lang zögern. Was auch immer die Grundlage für Svenyas besondere Macht war, Alberich war bestimmt dazu in der Lage, sie auch Yrr zu verleihen … und die war mehr als heiß auf den Job.
Yrr als Hüterin Midgards.
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