Elbenthal-Saga Bd. 1 - Die Hüterin Midgards
dass sie nicht die erste junge Göre wäre, die sich die ganze Strecke kutschieren lassen würde, nur um dann am Ziel zu gestehen, dass sie keinen müden Euro in der Tasche hatte. Svenya gab ihm den vollen Preis und versprach, noch einen Hunderter draufzulegen, wenn er sie in weniger als einer Stunde am Leipziger Hauptbahnhof absetzen würde. Das musste sie ihm nicht zweimal sagen. Kaum hatte sie ihren Rucksack im Kofferraum verstaut, ohne dass er ihr dabei seine Hilfe angeboten hätte, und neben ihm auf dem Beifahrersitz Platz genommen, trat er aufs Gas und raste los.
»Nicht sooo schnell«, beeilte sich Svenya zu mahnen. »Nicht hier in der Stadt. Ich habe nichts davon, wenn Sie jetzt und hier von der Polizei angehalten werden.« In Wahrheit war ihre viel größere Sorge, dass hier in der Innenstadt jemand von Hagens Leuten auf das rasende Taxi aufmerksam wurde und ihre Fahrt stoppte, ehe sie überhaupt richtig begonnen hatte.
Als sie langsamer wurden, lehnte Svenya sich im Sitz zurück und versuchte zu entspannen. Sie wünschte, sie hätte Gelegenheit gehabt, sich zu maskieren – Haare abschneiden und färben oder so etwas in der Art. Für eine Sonnenbrille war es zu dunkel – mit der würde sie eher auffallen. Sie ließ sich noch einmal das Zusammentreffen mit Wargo durch den Kopf gehen und fragte sich, warum ihr nicht aufgefallen war, wie er für sie empfand … und wieso, bei Hel, sie sich nicht in ihn verliebt hatte. Er passte von seiner ganzen Art her sehr, sehr viel besser zu ihr als Hagen. Sie hatte keine Ahnung, ob er jünger war als der Elbengeneral – aber er wirkte auf jeden Fall so. Sehr viel jünger sogar. Denn obwohl Hagen gerade mal aussah wie Ende zwanzig – sobald er den Mund aufmachte, merkte man bereits beim ersten Satz, dass er im wahrsten Sinne des Wortes Jahrtausende auf dem Buckel hatte. Was wollte sie denn von einem so alten Mann? Von einem, der alles wusste … der schon alles erlebt zu haben schien. Sie war gerade erst siebzehn geworden, verdammt. Nach Charlie war sie sowieso sicher gewesen, nie irgendetwas mit einem Mann anfangen zu können. Und jetzt das! Egal, wie oft sie sich daran erinnerte, dass das alles jetzt, da sie von Elbenthal fortgegangen war, keine Rolle mehr spielte, ihre Gedanken waren wie Geier, die um das Thema kreisten wie um in der Wüste verrecktes Aas.
Im Stillen gestand Svenya sich ein, dass sowohl Nanna als auch Wargo mit ihren Beobachtungen recht gehabt hatten. Sie war tatsächlich in Hagen verliebt.
Aber warum?!
Zugegeben, er war attraktiv wie die leibhaftige Sünde und stark wie ein Bulle – und trotzdem hatte seine Seele etwas Sanftes, Zärtliches. Wie er vom Wald gesprochen hatte … und wie er sich um die Bären kümmerte. Aber war er zu ihr jemals so einfühlsam gewesen wie zu dem Bären?
Nein!
Ihr gegenüber hatte er sich von Anfang an verhalten wie die Axt im Walde. Und dann waren da noch seine Sturheit, seine verfluchte Engstirnigkeit, sein Kommandoton, seine Unbeugsamkeit und seine kühle Härte und, und, und. Aber dann wiederum war er auch überraschend humorvoll – ja sogar verspielt … sogar charmant.
Zur Hölle mit ihm! Ich habe jetzt ganz andere Sorgen, als über mögliche und unmögliche Liebe nachzudenken!
Wie recht sie mit dieser Erkenntnis hatte, erkannte Svenya, als links und rechts von dem Taxi zwei große schwarze Geländewagen mit dunkel getönten Scheiben auftauchten.
Ein dritter hinter ihnen.
Und ein vierter, der von vorne kommend, mit Vollgas frontal auf sie zuhielt.
37
Der Taxifahrer stieß einen Fluch aus, als er sah, dass einer der Geländewagen frontal auf sie zufuhr.
»Ist der besoffen?«, rief er wütend und versuchte ein Ausweichmanöver nach links. Doch da war nicht mehr sehr viel Platz – wegen des Verfolgers auf der linken Flanke. Es schien keinen Ausweg zu geben. In letzter Sekunde sah Svenya einen: eine kleine Seitengasse zu ihrer Linken.
»Kurz abbremsen und dann scharf links«, wies sie den Taxifahrer an.
»Was?« Der hatte jedoch noch nicht begriffen, was hier vor sich ging. Wie sollte er auch?
»Kurz abbremsen und dann scharf links«, wiederholte sie. »Mit Vollgas!« Diesmal in militärischem Befehlston … der überraschenderweise sofort seine Wirkung erzielte.
Der Taxifahrer trat kurz auf die Bremse – gerade so viel, dass die beiden Wagen links und rechts an ihm vorbeischossen, aber nicht genug, dass der, der sie von hinten verfolgte, auffuhr. Das machte den Weg zur Linken
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