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Elbenzorn

Elbenzorn

Titel: Elbenzorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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war noch nie ohne Iviidis hierhergekommen und fühlte sich wie ein Eindringling. Die rot gewandeten Bewahrer, an denen er vorüberkam, musterten ihn fragend, aber nicht unfreundlich. Als er schließlich, nach einem anstrengenden Aufstieg, vor dem Einstieg zu Alvydas’ Höhle stand, wurden ihm vor Erleichterung und Aufregung zugleich die Knie weich. Er schob sich in das Innere des Baums und tastete sich vorwärts. Hinter ihm verglomm der letzte Schimmer des Tageslichtes, und er entzündete einen Elbenfunken, der ihm zumindest zu sehen erlaubte, wohin er seine Füße setzte.
    Vor Alvydas’ Räumen hielt er inne und lauschte. Kein Geräusch drang zu ihm, es war, als wäre niemand außer ihm hier im Inneren des Baumes. Verzagt klatschte er in die Hände.
    Nichts rührte sich, und er hatte sich schon abgewandt, um sich durch die Finsternis wieder zurück ans Licht zu tasten, als hinter ihm ein Rascheln erklang.
    »Wer ist das?«, fragte eine klare Stimme. Ein Lichtstrahl fiel in die Dunkelheit.
    »Olkodan«, sagte er und räusperte sich. »Iviidis’ Mann. Ich entschuldige mich für mein Eindringen, aber ich muss mit dir sprechen.«
    Ein Vorhang wurde beiseite gezogen. »Komm herein«, sagte die Stimme.
    Olkodan blinzelte, als er eintrat. Dies war also Alvydas, der ihn freundlich fragend anblickte, und Olkodan musste sich anstrengen, ihn nicht anzustarren. Der haarlose Schädel und die großen Augen in dem faltigen Gesicht, die bleiche Haut und die offenkundige Gebrechlichkeit des Elben boten einen ungewöhnlichen, beinahe erschreckenden Anblick.
    »Du kommst alleine? Wo ist Iviidis?«, fragte der alte Elb. Olkodan biss sich auf die Lippe.
    Alvydas griff nach seinem Arm. »Setz dich«, sagte er sanft. »Du siehst aus, als würdest du jeden Augenblick umfallen.« Olkodan ließ sich auf einen Stuhl sinken und legte müde die Hand vor den Mund. Alvydas ging auf seinen Stock gestützt an ihm vorbei und verschwand im Nebenraum. Olkodan hörte etwas klappern und ein Gluckern. Dann schob sich eine Hand in sein Blickfeld, die einen kleinen Becher hielt. »Trink«, sagte Alvydas.
    Olkodan war selbst erstaunt zu sehen, dass seine Hand leicht bebte, als er den Becher an die Lippen hob. Er trank einen großzügigen Schluck, ohne zuvor zu probieren, und unvermutet rann etwas scharf Brennendes, ein Geschmack nach Anis und anderen Gewürzen seine Kehle hinab. Mit einem Laut, der zwischen Keuchen und Husten lag, stellte er den halb geleerten Becher ab und wischte sich die plötzlich tränenden Augen.
    »Danke«, sagte er erstickt. »Für das Gebräu würde einer meiner Freunde einen weiten Weg zurücklegen.«
    Alvydas, der sich im Sessel gegenüber niedergelassen hatte, legte die Hände zu einem spitzen Dach zusammen, kurz lächelnd, bevor er Olkodan erstaunlich scharf anblickte. »Sag mir, was geschehen ist.«
    Olkodan drehte den Becher unentschlossen in den Fingern und stellte ihn wieder ab. »Sie ist verschwunden«, sagte er und erzählte Alvydas, was sich zugetragen hatte und dass er befürchtete, Iviidis könne in die Hände der Verschwörer geraten sein. Während er das noch aussprach, kam ihm der Verdacht plötzlich lächerlich vor, und er fühlte sich wie ein überbesorgter Dummkopf.
    Der alte Elb hörte ihm aufmerksam zu und saß einen Moment lang nachdenklich da, als Olkodan geendet hatte.
    »Ich weiß gar nicht, warum ich zu dir gekommen bin«, sagte Olkodan unglücklich. »Ich habe mich so hilflos gefühlt. Iviidis wollte gestern noch zu dir, und vielleicht habe ich sogar gehofft, dass sie hier ist …« Er legte das Gesicht in die Hände.
    »Danke, dass du an mich gedacht hast«, sagte Alvydas. »Ich hätte nicht erfahren, dass etwas geschehen ist, wenn du nicht gekommen wärst.« Er ließ einen Seufzer hören, der fast klang wie ein Stöhnen.
    Olkodan hob den Kopf und sah ihn alarmiert an.
    »DeineFrauträgt meine Erinnerungen mit sich«, fuhr Alvydas fort. »Sie müsste sich jetzt eigentlich dringend darum kümmern, sie zu archivieren.«
    Olkodan starrte ihn an. »Was bedeutet das für sie?«
    Alvydas schüttelte den Kopf. »Ich kann es dir nicht sagen, weil es nicht für alle gleich abläuft. Manche Bewahrer können einen Mond lang oder länger mit unverarbeiteten Erinnerungen herumlaufen – andere bekommen schon nach zwei Tagen Kopfschmerzen davon.«
    »Was könnte ihr passieren, wenn sie sich nicht rechtzeitig darum kümmern kann?«
    Alvydas wandte den Blick ab.
    Olkodan nickte, als hätte der andere etwas gesagt.

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