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Elbenzorn

Elbenzorn

Titel: Elbenzorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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Spiegel. Sie erinnerte sich. Im Spiegel konnte man sein Gesicht sehen.
    Sie erinnerte sich nicht an ihr Gesicht. Angst flutete hoch und verebbte sogleich wieder. Erinnern. Sie hatte Erinnerungen, viele, viele. Vielleicht fühlten sie sich nicht so an, als wären es die ihren, aber sie konnte sich irren. Wahrscheinlich irrte sie sich. Wessen Erinnerungen sollten es denn sein, wenn sie doch in ihrem Kopf waren?
    Sie lehnte sich zurück, plötzlich ganz beruhigt und voller Vorfreude. Sie breitete die Arme aus, in unbewusster Nachahmung der Bewegung, die sie in ihrem Geist machte: »Kommt zu mir.«
    Und die Erinnerungen gehorchten. Die Dämme brachen, die Flut kam und riss sie mit sich. Sie sank nach hinten, ihre Augen verdrehten sich, ihr Atem stockte.
    Sie bemerkte nicht, dass jemand in den Raum gestürzt kam und sie schüttelte. Sie bemerkte nichts mehr. Ihr Herz stand still.

27
    A ls sie weiter nach Süden ritten, wurde es kälter. Ihre Begleiter waren anscheinend gegen die nächtlichen Temperaturen gefeit, aber Rutaaura glaubte, noch nie in ihrem Leben so gefroren zu haben. In den letzten Nächten hatte sie kaum Schlaf gefunden, sondern sie hatte neben dem Feuer kauernd gedöst, in ihre Decke gewickelt und mit steifen Fingern immer wieder Holz nachschiebend.
    Tagsüber ritten sie in scharfem Tempo. Der Jagd-Skrall, auf dem sie mit Sonnenlied saß, war ein Weibchen, sie hieß Daja und war von reizbarem Temperament. Dennoch ließ sie sich inzwischen auch von Rutaaura leiten, und Sonnenlied überließ ihr immer mal wieder die Zügel und erholte sich dann ein wenig.
    Rutaaura gelang es im Gegensatz zu Sonnenlied nicht, im Sattel zu schlafen. Der harte Schritt der kleinen Skralls rüttelte sie bis an die Zähne durch und verhinderte jegliche Erholung.
    Die Schweigsamen verdienten ihren Beinamen. Es wurden wenig Worte gewechselt, die Mitglieder der Gruppe waren allem Anschein nach perfekt aufeinander eingespielt, oder sie konnten Gedanken lesen. Je weiter die Reise ging und je zerschlagener sie sich fühlte, desto wahrscheinlicher erschien ihr die letztere Möglichkeit.
    Sie hatte keinen Grund sich zu beschweren, die Dunklen waren freundlich zu ihr. Sie lächelte, als sie das dachte. »Die Dunklen«. Was war sie selbst? Das waren ihre Leute, ihre Familie, ihr Volk. Es fühlte sich nur noch nicht so an. Doch die Fremdheit, die sie in ihrer Gegenwart noch immer verspürte, begann mit jeder Länge, die sie sich weiter von der ihr bekannten Welt entfernten, mehr zu schwinden.
    »Nicht mehr lange«, sagte Sonnenlied. »Du bist das Reisen leid, nicht wahr, kleine Schwester?«
    »Ja«, erwiderte Rutaaura einsilbig. Sie mochte die Elbin, Sonnenlied hatte ein herzliches, nicht allzu kompliziertes Wesen und war immer bereit, ihre Fragen zu beantworten. Aber Rutaaura war inzwischen zu erschöpft, um noch die brennende Neugier zu empfinden, die sie zu Anfang ihrer Reise beseelt hatte. Sie würden irgendwann an ihrem Ziel eintreffen, und dann würde sie – egal, welche Einweihungsriten oder Begrüßungszeremonien sie auch erwarten mochten – erst einmal zusehen, dass sie ein Bett und vielleicht vorher ein heißes Bad bekam. Falls es im Südlichen Karst so etwas wie Betten und heiße Bäder gab.
    Sie fragte Sonnenlied danach und wurde mit dem fröhlichen Glucksen belohnt, mit dem Sonnenlied ihre Fragen häufiger quittierte.
    »Wir sind Elben«, sagte sie. »Kannst du dir eine Elbengemeinschaft vorstellen, die ohne heiße Bäder auskommt? Und wenn wir beide zusammenhalten, schaffen wir es vielleicht, vor den Männern im Wasser zu sein!«
    Sie verstummte, denn Sturmtänzer ließ sich gerade zu ihnen zurückfallen. Er lenkte seinen Skrall an ihre Seite und ritt eine Weile schweigend neben ihnen her. Rutaaura wartete geduldig ab. Der Anführer des kleinen Elbentrupps schien eine besondere Abneigung gegen das Sprechen zu hegen. Es erstaunte sie immer noch, dass er sich vor ihrem Aufbruch so lange mit Lluigolf unterhalten hatte.
    Lluis – der Gedanke versetzte ihr einen Stich. Sie presste die Lippen zusammen und versuchte sich durch die Betrachtung der rauen Landschaft abzulenken, die sie durchquerten. Seit gestern ritten sie durch eine zerklüftete Felsenlandschaft, die derart von Rinnen, Furchen und Senken durchzogen war, dass sie aussah wie von den Klauen wütender Riesen zerstört.
    »Was erwartest du?«, riss Sturmtänzers Stimme sie aus ihren Betrachtungen. Sie sah ihn fragend an, aber er führte seine Frage nicht weiter

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