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Elbenzorn

Elbenzorn

Titel: Elbenzorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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»Gut, das heißt umso mehr, dass wir sie so schnell wie möglich finden müssen.« Er stand auf und ging durch den kleinen Raum. Vor der Holzskulptur mit den beiden verschlungenen Körpern hielt er inne. Er fuhr sacht mit einem Finger über die glatt polierte Oberfläche. Alvydas beobachtete ihn schweigend.
    »Iviidis hat eine Schwester«, sagte Olkodan geistesabwesend, während er das Figürchen betastete.
    »Ja.«
    »Kennst du sie?«
    »Ich weiß von ihr.«
    Olkodan wandte sich um und sah ihn an. Er hielt immer noch die kleine Skulptur in der Hand. Alvydas beugte sich mühsam vor und nahm sie ihm ab.
    »Entschuldige meine schlechten Manieren«, sagte Olkodan verlegen. »Es ist … Ich arbeite mit Holz. Das ist eine sehr schöne Arbeit. Von einem Baumsinger, nicht wahr?«
    Alvydas stellte das Figürchen behutsam auf den Tisch. Seine Hand verweilte beinahe zärtlich auf ihr. »Ja«, bestätigte er.
    »Ihre Schwester – was ist mit ihr? Warum spricht ihre Familie nicht von ihr?«
    Alvydas schüttelte langsam den Kopf. »Ist das jetzt wichtig?« Olkodan schloss entmutigt die Augen. »Nein, natürlich nicht. Ich weiß bloß nicht, was ich tun soll. Iviidis ist irgendwo da draußen – und ich sitze hier herum. Die Garde sucht nach ihr, den ganzen Tag schon. Ich habe keine Hoffnung, dass sie sie inzwischen gefunden haben.« Er lächelte verzerrt. »Falsch – ich hoffe, dass sie sie nicht gefunden haben. Solange keine Spur von ihr auftaucht, ist sie vielleicht noch am Leben und wird bloß gefangen gehalten.«
    »Von wem?«, fragte Alvydas. »Was vermutet Glautas?«
    »Er glaubt, dass er Feinde hat, die ihn unter Druck setzen wollen. Im Rat gibt es offenbar einige Fraktionen, die in wichtigen Punkten gegensätzlicher Meinung sind.«
    »Das wäre noch kein Grund, die Tochter eines Ratsherren zu entführen.«
    Olkodan schnaubte. »Anscheinend ist es irgendetwas ungeheuer Wichtiges, um das sich der Rat zurzeit streitet. Glautas sagt, er stehe für eine bestimmte Richtung, die sich keiner großen Beliebtheit erfreut. Und er hält seine Feinde für unberechenbar und skrupellos genug, so etwas zu tun. Er hat die Garde alarmiert und ist selbst aufgebrochen, um ein paar Leute aufzusuchen.« Alvydas schüttelte den Kopf, aber er sagte nichts. Olkodan griff nach dem Becher, der noch immer auf dem Tisch stand, und trank ihn entschlossen aus.
    »Danke, dass du mir zugehört hast«, sagte er. »Ich gehe jetzt nach Hause. Vielleicht gibt es ja Neuigkeiten.«
    Alvydas stand mühsam auf. »Ich werde nachdenken. Manchmal hilft es …« Er lächelte wehmütig.
    »Darf ich wiederkommen?«
    »Ich würde mich freuen. Vor allem, wenn du etwas erfährst.«
    »Dann komme ich sofort zu dir.« Olkodan warf einen letzten Blick auf die kleine Skulptur und ging zur Tür. Alvydas schloss den Vorhang hinter ihm.
    Olkodan stand einige Atemzüge lang in der Finsternis. Es roch ein wenig muffig, nach moderndem Holz, Erde und Pilzen. Das Innere des Baums war nicht unbelebt, er hörte das leise Kratzen von Tierfüßen, und über seinem Kopf flatterte etwas, unsichtbar, aber er fühlte den Luftzug auf der Wange. Wie konnte ein Elb hier leben, im ewigen Dunkel, ohne jemals die frische Morgenluft, einen Regenschauer, die Sonne oder die Sterne zu erblicken?
    Er schüttelte sich unwillkürlich und beeilte sich, wieder hinaus ans Licht zu kommen.

    Sie wusste nicht, wo sie war. Es war ein Raum, irgendein Raum. Sie verband nichts mit ihm. Ein Tisch, ein Stuhl, ein Bett. Eine Waschschüssel. Sie musterte gleichgültg die Umgebung, während sie auf dem Bett lag.
    War dies ihr Zimmer? Sie wusste, dass sie ein Zimmer hatte. Oder einmal gehabt hatte. Ihre Erinnerung daran war nebelhaft, wie alles, was ihre Vergangenheit betraf. Sie hatte sicherlich ein Zimmer gehabt, und wahrscheinlich hatte sie auch eine Familie. Vielleicht einen Mann oder ein Kind. Eltern? Geschwister? Ja, möglicherweise.
    Sie setzte sich auf und stellte die Füße auf den glatten Holzboden. Er war ein wenig warm und fühlte sich beinahe lebendig an. Sie ging die wenigen Schritte hinüber zum Tisch und sah auf den Teller mit Obst und den Wasserkrug hinab, die dort standen. Sie griff nach einem Apfel und roch ohne große Begeisterung daran, um ihn dann wieder zurückzulegen.
    Zwei Schritte vom Tisch bis zur verschlossenen Tür. Drei Schritte von dort zum Bett. Sie legte sich hin, die Arme unter dem Kopf verschränkt, und starrte zur Decke.
    Was machte sie hier? Sie schien auf etwas zu warten –

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