Elbenzorn
erklärte sie. »Wenn der Stein deine Schwester nicht finden kann, bedeutet das, dass sie sich nicht mehr in seinem Wirkungskreis aufhält. Also ist sie entweder im Wasser, was unwahrscheinlich ist, oder bei den Bäumen. Und dort sucht sie die Älteste jetzt.«
»Aha«, sagte Rutaaura, ohne etwas verstanden zu haben. Mondauge lächelte.
»Komm«, sagte sie. »Wir beide werden uns bei mir ein wenig unterhalten. Ich werde wohl in der nächsten Zeit deine Lehrerin sein.«
Während sie zu den Hütten zurückgingen, erzählte Mondauge ihr von der Zeit, als das Elbenvolk noch geeint gewesen war, und von den letzten Tagen der Königin Onabiirute, die wahnsinnig geworden war. »Es war immer eine Gefahr damit verbunden, wenn ein Mitglied der fünf Hohen Häuser ausgewählt wurde, um das Gefäß zu sein«, erklärte sie. »Wir mussten die Anwärter lange und gründlich auf diese Aufgabe vorbereiten, und es war sogar manchmal der Fall, dass derjenige sich als nicht geeignet herausstellte, wenn der Älteste ihm seine Erinnerungen übergab.«
»Und was geschah dann?«
»Dann musste der empfangende Geist sorgfältig wieder gereinigt werden. Eine langwierige und komplizierte Prozedur, die alle Beteiligten in der Regel sehr mitnahm. Deshalb wurde das Gefäß immer sehr sorgfältig ausgewählt. Wir Bewahrer mussten sichergehen, dass unsere Könige in der Lage waren, die Bürde zu tragen – wenn auch niemals für eine sehr lange Zeit.«
Rutaaura schüttelte den Kopf. »Warum dieser Umstand? Du hast doch erklärt, dass alle Erinnerungen von den Bewahrern gehütet werden.«
»Es musste immer einen Elben geben, der alle Erinnerungen in sich vereint. Es reicht nicht, sie nur zu archivieren. Sie müssen lebendig unter uns sein, damit unser Volk lebt, wächst und gedeiht.« Mondauge schlug ihre Hände ineinander, dass es knallte wie ein Peitschenhieb. Irgendwo im Dickicht flog erschreckt ein Vogel auf. »Der Baum verkümmert, Sternfängerin. Unser Volk stirbt.«
Rutaaura blieb plötzlich stehen. »Iviidis«, stieß sie hervor. »Jetzt verstehe ich eure Sorge!«
Mondauge nickte. »Sie war nicht vorbereitet«, sagte sie grimmig. »Ich weiß nicht, was den Ältesten getrieben hat, ihr das anzutun. Außer …«
»Außer?«
»Außer, er lag im Sterben.«
Auf dem kleinen Platz zwischen den Hütten war eine Handvoll Elben versammelt, die einem in ihrer Mitte lauschten. Rutaaura vernahm Satzfetzen, die von Abwehr und sogar Empörung zeugten, aber auch Worte der Zustimmung.
Sie sah Mondauge an und bemerkte verwundert den zornigen Ausdruck, den das Gesicht der Elbin angenommen hatte. Mondauge ergriff ihren Ellbogen und wollte sie eilig an der Gruppe vorüberführen, aber in diesem Moment löste sich ein Mann aus der Mitte und trat Rutaaura in den Weg. Sie erkannte Nebelherz, der sie aufreizend musterte.
»Du bist also der neue Lichtblick der Ältesten«, sagte er kalt. »Die Hoffnung unseres Volkes, das Wunder, das uns unseren angestammten Platz zurückgeben soll. Willkommen, du Wunderwirkerin. Ich bin ein wenig enttäuscht, ich hatte mir dich beeindruckender vorgestellt.«
Aus der Ansammlung hinter ihnen erklang wütendes Gemurmel, aber der Elb ließ sich davon nicht beirren.
»Zügele deine Zunge, Nebelherz«, wies Mondauge ihn scharf zurecht. »Du bist ein Unglück für unser Volk, wenn du so redest.« Der Elb streifte sie mit einem gleichgültigen Blick. »Geh zu deinen Kristallen, alte Frau«, sagte er. »Deine Zeit ist vorüber, du hast sie schlecht genutzt. Du und deinesgleichen seid Schuld an unserem Unglück!«
Mondauge hob die Hand, aber ein Elb aus der Gruppe der Zuhörer fiel ihr in den Arm. »Tu nichts, was dich unglücklich macht, Gesegnete«, sagte er sanft. »Dieser wird sich früher oder später selbst richten. Komm.« Er nahm Mondauge beim Arm und zog sie mit sich, obwohl sie sich sträubte.
Rutaaura hielt dem starren Blick ihres Gegenübers stand. »Was willst du von mir?«, fragte sie ruhig.
»Zeig mir, was du kannst«, erwiderte er. »Ich brenne darauf zu sehen, ob du wirklich so stark bist, wie die Alten hoffen.« Er bleckte die Zähne.
Rutaaura schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wovon du redest«, sagte sie. »Aber du hast kein Recht, mich so zu bedrängen. Ich möchte nichts mit dir zu tun haben.« Sie wollte an ihm vorbeigehen, um Mondauge zu folgen, aber der Elb packte sie am Arm.
»Feige also?«, zischte er, und etwas Speichel sprühte auf ihre Wange. Sie wischte ihn angeekelt ab und riss sich
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