Elea: Die Träne des Drachen (Band 1) (German Edition)
konnte als andere. Deshalb legte sie ihre rechte Hand auf ihr Herz und sagte im Flüsterton: „Maél, ich liebe dich. Du fehlst mir so sehr.“ Die Gestalt reagierte sofort darauf. Sie löste sich von dem Baum, stellte sich gut sichtbar mitten auf den Weg und schaute ein paar Augenblicke lang zu ihr hoch. Tränen lösten sich aus ihren Augen und hinterließen eine eisige Spur. Dann verschwand die schattenhafte Gestalt auch schon mit schnellen Schritten durch einen Durchgang in einem Gebäude. Elea atmete nochmal tief die kalte Luft ein, bevor sie das Fenster schloss. Den Holzladen rührte sie nicht wieder an. Sie trippelte wieder, so schnell sie konnte, zum Bett zurück und warf sich schluchzend darauf.
Er erwachte wie so oft in seinem Leben schweißgebadet. Einer seiner früheren Albträume hatte ihn fast die ganze Nacht hindurch gequält. Es war jedoch nicht der Traum, von dem er Elea erzählte, und der ihn, seit er ein kleiner Junge war, verfolgte. Dieser Traum hatte sich seines Schlafes bemächtigt, kurz nachdem er sechzehn Jahre alt geworden war, und setzte ihm jedes Mal nach dem Erwachen viel mehr zu als der Traum aus seiner Kindheit. Ausgelöst wurde er durch die Begegnung mit Finlay, dem er bis zum Vortag schon lange nicht mehr begegnet war. Mit einem Mal drang der pochende Schmerz in seiner rechten Hand in sein Bewusstsein und lenkte ihn von dem finsteren Traum und seinen Gedanken an Finlay ab. Er schwang die Beine aus dem Bett und blieb erst einmal sitzen. Er konnte kaum glauben, dass er trotz des aufwühlenden Besuchs von Finlay eingeschlafen war und dies mit nacktem Oberkörper in seinem eiskalten Zimmer, ohne sich zugedeckt zu haben. Dies war dem Branntwein zuzuschreiben, der ihm ziemlich schnell aufgrund seines nüchternen Magens zu Kopf gestiegen war und jegliches Denken und Fühlen ausgeschaltet hatte. Er sah auf seine Hand. Die Dunkelheit in seinem Zimmer konnte ihn nicht daran hindern, die blutverkrusteten, aufgeplatzten Knöchel zu erkennen, die ihm am Abend zuvor noch keinen Blick wert waren. Er bewegte die Finger unter großen Schmerzen. Die Hand war so geschwollen, dass er nicht einmal feststellen konnte, ob sie vielleicht gebrochen war. Den Schmerzen nach zu urteilen war es allerdings mehr als naheliegend.
Mit der Hand kann ich das Schwert vorerst nicht führen.
Er stand auf und holte sich aus der Satteltasche seine alte Tunika, aus der er bereits für Eleas Haar zwei breite Streifen herausgeschnitten hatte. Für einen kurzen Moment blieb sein Blick an den Schnittstellen des Stoffes haften. Dann riss er sich jäh davon los und machte sich daran, einen Ärmel abzuschneiden, mit dem er sich die Hand bandagierte. Hastig schüttete er sich das Eiswasser ins Gesicht, das noch von dem Tag seiner Abreise vor etwa neun Wochen stammte. Aus dem kleinen Wandspiegel neben dem Tisch schaute ihn ein erschöpftes Gesicht mit mehrere Tage alten Bartstoppeln an. Diese interessierten ihn jedoch im Moment nicht. Seine Gedanken kreisten jetzt nur um eine Person: Elea. Er konnte nicht anders. Er musste dem sehnsüchtigen Drang, in ihrer Nähe zu sein, nachgeben. Er hatte bereits am Tag zuvor gespürt, in welchem Trakt des Schlosses sie sich befand. Er musste sich nur in den Schlossgarten begeben, dann würde es nicht lange dauern, bis er wüsste, hinter welchem Fenster ihr Zimmer lag. Ihr Blut in seinem Blut würde es ihm verraten. Die Fähigkeit, jemanden, von dessen Blut er getrunken hatte, überall zu finden, hatte er genauso wie die damit verbundene Verwandlung immer als einen Fluch angesehen. Jetzt allerdings, war er froh darüber, diese Gabe zu besitzen, da sie es ihm erlaubte, immer zu wissen, wo Elea sich befand. Er hatte diese Gabe schon lange nicht mehr einsetzen müssen. Denn die Männer, von deren Blut Darrach ihn zu trinken zwang, lebten nicht mehr, weil er sie getötet hatte. Es gab jedoch unter den Lebenden noch eine weitere Person, deren Aufenthaltsort er jederzeit bestimmen konnte – vielmehr könnte: Darrach selbst, wenn er es durch einen Zauber nicht verhindern würde.
Der Zauberer hatte irgendwann damit begonnen, an ihm im Kindesalter Experimente durchzuführen. Einmal fragte er ihn, wie er auf diese Idee mit dem Blut überhaupt kam. Die Antwort des Zauberers hatte ihn jedoch bis heute nicht überzeugt. Angeblich habe er einen Traum gehabt, in dem er gesehen habe, wie ein Mann mit spitzen Ohren, nachdem er Blut getrunken hatte, sich verwandelt habe. So begannen dann die Versuche. Zuerst
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