Elea: Die Träne des Drachen (Band 1) (German Edition)
Erinnerung an den furchterregenden Vorfall im Sumpf ließ vor ihrem inneren Auge jäh ein Bild von ihr und Maél auftauchen, in dem sie eng umschlungen und nackt auf dem Boden lagen und Maél sie mit seinem heißen Körper wärmte. Sie fühlte plötzlich eine Sehnsucht nach ihm, die ihre linke Brusthälfte vor Schmerz zusammenziehen ließ. Sie drehte sich auf die Seite und presste ihre Arme und Oberschenkel Schutz suchend an ihren Oberkörper. Ihr wurde mit einem Mal bewusst, dass sie kaum mehr an ihn gedacht hatte, seit sie ihn von ihrem Fenster aus im Garten entdeckt hatte. Das lag hauptsächlich daran, dass Belana ihr überhaupt keine Zeit dazu ließ. Außerdem war sie am Abend zuvor viel zu müde und erschöpft gewesen, um an ihn zu denken. Aber jetzt gerade in diesem Moment, sehnte sich jede Faser ihres Körpers nach ihm, nach seinen Berührungen, nach seiner Stimme, die so liebevoll zu ihr sprechen konnte.
Immer noch zusammengekrümmt wie ein verschrecktes Rehkitz, schloss Elea die Augen und dachte über ihr Leben nach, das sich in den letzten fünf Wochen grundlegend geändert hatte. Aber nicht nur ihr Leben hatte sich geändert, auch sie selbst war eine Andere geworden. Bei ihrer Familie zu Hause war sie immer die stärkste und gelassenste von allen gewesen. Sie kannte keine Furcht, abgesehen von der, die sie bei der Begegnung mit den Wölfen empfunden hatte. Mit der Reise nach Moray wurde jedoch alles anders. Ihre Gabe hatte sich weiterentwickelt und eine unvorstellbare Kraft erreicht. Andere Gaben kamen zum Vorschein. Und schließlich hatte sie mit Stimmungswechsel zu kämpfen, die für sie völlig neu waren und die ihr mehr als alles andere zusetzten. In einem Moment fühlte sie sich noch stark und zuversichtlich, im nächsten versank sie in einem Meer von Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, sodass sie sich schwach und verwundbar fühlte. Und zu allem Übel neigte sie auf einmal dazu, in Ohnmacht zu fallen. Meine Gefühle bestimmen mein Leben und ich kann nichts dagegen unternehmen. Und Schuld daran ist – so wie es aussieht – meine Liebe zu Maél. Sie schlug wieder die Augen auf, um ein paar Tränen die Tür in die Freiheit zu öffnen. Sie hatte das ungute Gefühl, dass sie in den kommenden Wochen, Monaten oder vielleicht sogar Jahren noch wesentlich mehr Tränen vergießen würde. Zwangsläufig kamen ihr die nichts Gutes verheißenden Worte in der Prophezeiung in Erinnerung: „Kummer und Schmerz, Opfer und Qualen sind ihre steten Wegbegleiter“.
Durch ihren endlosen Tränenschleier bemerkte sie plötzlich merkwürdige Gegenstände in einer langen Reihe auf dem Boden stehen. Sie wischte sich die Tränen weg. Oh, nein! Was soll ich denn mit so vielen Schuhen anfangen? Sie kam mühsam auf die Beine und ging auf die Schuhe zu. Sie sahen allesamt äußerst unbequem aus. Als sie sie im Schneidersitz genauer in Augenschein nahm, klopfte es an der Tür, die sogleich aufsprang. Es war natürlich, wie nicht anders zu erwarten war, Belana mit einem Tablett voller Schüsselchen mit dampfendem Inhalt, das sie auf der Frisierkommode abstellte. Elea erhob sich mit einem gequälten Lächeln. Die Erste Hofdame kam auf sie zu und streichelte zärtlich ihre Wange. Die Tränenspuren auf ihrem Gesicht blieben ihr nicht verboren. „War die Unterredung mit König Roghan und Darrach sehr schlimm? – Ich verspreche Euch, dass der Abend viel erfreulicher verlaufen wird. Mit Prinz Finlay habt ihr einen liebenswerten und unterhaltsamen Gesprächspartner. Und König Roghan kann auch ein warmherziger Mann sein, wenn er sich nicht gerade mit seinen ehrgeizigen Regierungsplänen befasst.“ Elea ließ sich wieder einmal von der willensstarken Frau zu dem Stuhl vor der Frisierkommode führen.
„ Ihr könnt Euch bis heute Abend ausruhen. Ich komme Euch holen, wenn es soweit ist. Ich habe Euch übrigens Eure gewaschenen Kleider dort drüben auf die Truhe gelegt, falls sie Euch noch nicht aufgefallen sind. Vielleicht hebt das etwas Eure Stimmung.“ Mit diesen Worten ließ sie die schweigsame junge Frau allein.
Elea saß eine geraume Weile und betrachtete sich im Spiegel. Das Azurblau des Herbsthimmels strahlte durch das dicke Fensterglas in ihr Zimmer. Sie begann, appetitlos in ihrem inzwischen kalt gewordenen Essen herumzustochern. Ohne einen Bissen davon geschluckt zu haben, legte sie die Gabel nieder und steuerte auf das große, einladende Bett zu. Schlafend würde die Zeit bis zum Abend am schnellsten verstreichen. Zuvor
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