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Eleanor Rigby

Eleanor Rigby

Titel: Eleanor Rigby Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Coupland
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Veränderungen, die MS verursacht, kommen dem Opfer seine körperlichen und geistigen Fähigkeiten abhanden: Gleichgewichtssinn, Wärmeempfinden, Denkvermögen und Ausdauer — und alles andere, nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Am Ende verliert der Körper die Schlacht.
    Jane sagte: »Meistens trifft es Menschen zwischen zwanzig und Anfang dreißig, aber Abweichungen sind möglich. Es gibt keine Heilung. Unter Umständen kann man die Symptome lindern, aber das ist auch schon alles.«
    »Es gibt gar kein Mittel dagegen?«
    Jane sagte: »Nichts. Männer bekommen MS seltener, aber schlimmer als Frauen. Jeremy hat die progrediente Form der Krankheit. Die meisten Menschen haben die schubförmige, remittierende Form. Sein Körper löst sich praktisch auf.«
    Wir schwiegen. Dann sagte ich: »Jeremy hat gesagt, Sie beide hätten sich getrennt.«
    »Haben wir auch.«
    Noch so eine bedeutungsschwangere Pause. Unausgesprochen stand die Frage im Raum: Was für ein Monster muss man sein, um einen Mann mit MS sitzen zu lassen?
    »Hören Sie«, sagte Jane, »ich weiß, was Sie denken. Wir haben uns getrennt, weil er Drogen genommen hat. Auch wenn er keine MS hätte, hätte ich ihn verlassen.«
    Leslie, die mit ihrem Mann wer weiß wie viele Drogen nahm, setzte ein bemüht gleichgültiges Gesicht auf. Ich sagte: »Das kann ich verstehen.«
    »Nein, wissen Sie, jedes Mal, wenn er etwas nimmt, beschleunigt das die MS. Diese blöde Krankheit schreitet bei ihm wahnsinnig schnell voran. Und diese neuen chemischen Drogen ... ich meine ... die verwandeln das Gehirn in ein absterbendes Korallenriff. Wenn er nicht selbst auf sich aufpassen kann, werde ich mich nicht zum Märtyrer machen und für ihn den Babysitter spielen. Das haben wir schon hundertmal durchdiskutiert.«
    Ich fragte: »Was sagt er denn, weshalb er Drogen nimmt?«
    »Um zu vergessen, dass er MS hat.«
    Wir mussten das Thema wechseln, und sowohl Jane als auch Leslie wollten mehr über meine Begegnung mit Jeremy wissen. Ich vermute, sie erwarteten Schmalz und Geigen, aber das konnte ich ihnen nicht bieten. Ich erzählte ihnen von dem Anruf, der Ärztin und den Blumen - aber nicht davon, wie wir den Highway entlanggekrochen waren. »Nun, er wusste ja schon seit Jahren über mich Bescheid, also kann er nicht allzu überrascht gewesen sein.«
    »Und was ist mit dir? Wie ging es dir dabei?«
    Ihre Blicke durchbohrten mich.
    Wie ging es mir?
    Ich hatte an jenem Tag noch gar nicht richtig Zeit gehabt, das alles zu verdauen, und ständig kam etwas Neues hinzu. »Ich weiß es wirklich nicht.«
    Jane fragte: »Wer ist sein Vater?«
    »Das kann ich Ihnen nicht sagen«, sagte ich.
    »Wieso denn nicht?«, fragte Leslie. Es ärgerte sie, dass ich immer noch nicht auspackte.
    »Ich sage es niemandem, bevor ich es nicht Jeremy gesagt habe.«
    Seltsamerweise sprachen wir dann über Weisheitszähne - was irgendwie neutral war und doch medizinisch, passend, aber belanglos.
    Jeremy gab ein Geräusch von sich. »Mom?«
    Ihr könnt euch nicht vorstellen, was für ein schönes Gefühl es war, Mom genannt zu werden.
    »Kann ich heute Nacht hierbleiben? Ich schlafe auf der Couch.«
    »Von mir aus gern, aber vielleicht will Jane dich wieder mitnehmen, wo auch immer ihr wohnt.«
    »Am Commercial Drive. In einem Fünfziger-Jahre-Wohnblock. Jane will mich bestimmt nicht zurückhaben. Diesmal hab ich's wirklich vermasselt.«
    Jane verzog das Gesicht.
    »Wieso nimmst du Drogen, obwohl du weißt, dass sie die Sache nur noch schlimmer machen?«
    »Weil ich, wenn die Wirkung nachlässt, Dinge sehe, die ich vorher nicht sehen konnte.«
    »Zum Beispiel die Sonne in fünfzehn Meilen Entfernung über der Horseshoe Bay.«
    »Bitte sei mir nicht böse. Aber ich habe ... die Sonne tatsächlich gesehen, und es war nicht die Sonne, die wir sonst sehen. Sie war anders.«
    Jane sagte: »Ich muss los.«
    »Jane ...«
    »Du kannst morgen vorbeikommen und deine Sachen holen.«
    Als sie weg war, fragte ich Jeremy, wie lange er schon Visionen hatte. Jane hatte nichts davon erzählt.
    »Seit gut einem Jahr. Ich war auf einer Party, und plötzlich konnte ich mich nicht mehr bewegen. Ich meine, ich war in meinem Körper eingeschlossen. Es war, als wäre ich aus Beton. Das hat mir eine Scheißangst gemacht.«
    »Wie lange hat das gedauert?«
    »Nur zwei Minuten. Als Jane und ein paar andere Leute mich von der Tanzfläche zerrten, war ich steif wie ein Brett. Wir waren alle außer uns vor Angst. Wir haben es den Drogen

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