Eleanor Rigby
real.
~38~
Ich fühlte mich unbehaglich dabei, Jeremy mit seinem zusammenklappbaren Rollstuhl zur Arbeit zu fahren, aber er nahm das ganz locker. »Wer weiß, vielleicht brauche ich ihn tatsächlich mal.«
»Forderst du nicht das Schicksal etwas heraus?« »Nein. Und außerdem nehme ich meine Medikamente jetzt wieder, also werde ich weder Krämpfe kriegen noch umkippen.« »Und auch keine Visionen haben?« »Vermutlich nicht.« »Du wirst schon wissen, was du tust.«
Ich ging neben ihm her in die The-Rock-Filiale mit ihrer schaurig-zeitlosen Aura von Chemikalien, tristem Mobiliar und unvorteilhafter Beleuchtung. Dann verabschiedete ich mich von ihm und sah zu, wie er zum Tresen rollte. Zum ersten Mal erlebte ich mit, welche Wirkung er und das Krüppelmobil auf Fremde hatten. Hinter seinem Rücken pressten die Frauen die Hand aufs Herz und verdrehten vor Verzückung über das tragische Schicksal dieses anbetungswürdigen jungen Mannes theatralisch die Augen. Kunden sahen ihn schon von weitem kommen und machten ihm ehrerbietig Platz. Es erinnerte mich daran, wie an der Highschool alle Mädchen verstummten und an ihren Haaren herumzuzwirbeln begannen, wenn ein Football-Spieler die Klasse betrat.
Natürlich war Jeremy sich seiner Wirkung durchaus bewusst, und er schlug hemmungslos Kapital daraus, dieser kleine Schmierenkomödiant. Ich dachte: Schön für ihn, aber seine Dreistigkeit machte mir trotzdem Sorgen. Als ich an jenem Morgen vom Einkaufszentrum über die Brücke zur Arbeit fuhr, hatte ich das Gefühl, ich würde in ein neues Leben aufbrechen, aber gleichzeitig zurück in ein altes gezerrt werden. Das Leben vor Jeremy kam mir ganz weit weg vor. Sonst hatte ich auf dem Weg zur Arbeit wie besessen Dinge aufgelistet und den bevorstehenden Abend geplant, hatte getan, was ich konnte, um die Einsamkeit einzudämmen. Nun überlegte ich stattdessen, ob Jeremy jetzt, wo er wieder seine Medikamente nahm, noch Visionen haben würde. Ich musste daran denken, wie bedauerlich es wäre, wenn er sie verlieren würde. Sie waren bizarr, aber sie gehörten ihm, nur ihm allein.
Dann begann ich mich zu fragen, wie es wäre, wenn ich statt Jeremy ein Mädchen bekommen hätte. Mein Beschützerinstinkt wäre der Gleiche, und ich wäre genauso glücklich wie über Jeremy, und dennoch wäre es mir unangenehm, ihr in die Augen zu sehen. Warum? Schauen Sie einmal einer zwanzigjährigen, einer dreißigjährigen und einer vierzigjährigen alleinstehenden Frau in die Augen. Ich denke da zum Beispiel an Jane. Sie ist zwanzig und kann es kaum erwarten, verdorben zu werden - die Aussicht, die Unmengen von Treibstoff in ihrem Innern verbrennen zu können, macht sie ganz schwindelig: Benutz mich! Servier mich ab! Mach mir Lust auf bizarre Dinge! Amyinitrat! Peitschen! Los, nimm mich! Doch mit dreißig senden dieselben Augen eine andere Botschaft aus: Okay, ich weiß, wie es ist, wenn einem wehgetan wird, also versuch das bloß nicht, ja? Ich kann den weißen Streifen sehen, den dein Ehering hinterlassen hat, und die *69 sagt mir, dass du in einem Vorort voller Bäume, Grundschulen und Fußballplätze wohnst. Offenbar ist noch ein bisschen Treibstoff übrig — gerade genug, um wieder in die Zivilisation zurückzukehren, wenn die Sache aus dem Ruder laufen sollte.
Aber dann schau dir diese Augen mit vierzig an. Wieder flammt dort das gleiche Feuer wie vor zwanzig Jahren auf:
Benutz mich! Servier, mich ab! Mach mir Lust auf bizarre Dinge! Nimm mich! Dabei ist der Treibstoff schon fast alle, und du willst eigentlich gar nicht benutzt und fallengelassen, in Leder gesteckt und mit Einlaufen traktiert werden, und jeder Typ, den du kennenlernst, wird dir auf den Zahn fühlen und feststellen, dass du weder langfristige Beziehungen aufzuweisen hast noch verheiratet warst, und dann wird er sich still und leise aus dem Staub machen. Vielleicht ist er derjenige, der einen Knacks hat, aber spielt das eine Rolle? Sechzig Sekunden nachdem er dich das letzte Mal irgendwo abgesetzt hat, singt er einen Supertramp-Song im Radio mit. Du bist noch nicht mal eine Erinnerung, du bist bloß ein Hubbel auf der Straße. Hast du zu viel verlangt? Stör mich bitte nicht in meinen täglichen Gewohnheiten, und bitte genieße es genauso sehr wie ich, alte Law & Order-Folgen zu sehen.
Ich weiß nicht, ob ich irgendwas davon in den Augen meiner Tochter sehen möchte, egal in welchem Alter sie ist. Ich könnte diesen Wandel nicht ertragen.
~39~
Meine Rückkehr ins Büro
Weitere Kostenlose Bücher