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Eleanor Rigby

Eleanor Rigby

Titel: Eleanor Rigby Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Coupland
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ihn: »Was ist denn?«
    »Mit dreizehn habe ich ungefähr drei Monate lang bei einer ganz großartigen Familie gelebt. Der Sonntag war bei denen genauso wie der Donnerstag. Sie glaubten an nichts als Autos, Skilaufen und Riesenschnauzer. Wir gingen ständig ins Restaurant, und sie gaben mir zehn Dollar Taschengeld pro Woche, ohne mir irgendwelche Vorträge zu halten.«
    »Warum bist du da nicht geblieben?«
    »Als ich eines Nachts aufwachte, lag ich zwischen ihnen im Bett. Da bin ich durchgedreht und nur mit einer Unterhose bekleidet zur Polizei gerannt. Es war Dezember, und mir war furchtbar kalt, aber sie haben mich nicht zurück nach Hause gefahren. Ich habe den Verdacht, dass ich nicht das erste Kind war, das dort weggelaufen ist.«
    »Aha.«
    »Ich kann dir noch mehr erzählen.« »Okay.«
    Jemand, der viel klüger ist als ich, hat mal gesagt, dass ein Mensch, der willens ist, die Wahrheit über sich zu erzählen, niemals langweilig ist. Darüber hinaus hat jemand ebenso Kluges gesagt, dass das, was uns peinlich ist, zugleich das ist, was uns interessant macht. Und so fuhr Jeremy mit der Stimme eines längst verschwundenen Pflegevaters fort: »Was nützt der Glaube, wenn man ihn nicht ständig auf die Probestellt? Was nützen deine Gedanken, wenn sie sich so leicht von den Gedanken anderer vereinnahmen lassen?
    Wenn ich irgendwas daraus gelernt habe, dann, dass du in dem Moment, in dem deine Pflegeeltern anfangen, dich nach deiner Seele zu befragen, erledigt bist. In dem Moment, in dem du anfängst, ihre Einstellung infrage zu stellen, bist du geliefert. Immer reden sie von Demut, aber dabei geht es eigentlich nie um Gott — sie wollen, dass du vor ihnen kapitulierst. Den meisten dieser Pflegeeltern geht es bloß darum, ein paar dreckige Kröten von der Regierung kassieren.«
    »So schlimm kann es doch nicht sein. Ich meine ...« Es war gedankenlos von mir, ihn zu unterbrechen, doch falls ihn das störte, zeigte er es zumindest nicht.
    »Wenn man müde ist, ist man am verwundbarsten. Und dann schlagen sie zu. Damit meine ich keine psychische Ausgelaugtheit, sondern einfach die Müdigkeit, nachdem man einen ganzen Tag lang Holz gefällt oder mit der Kettensäge Blaubeerdickichte beschnitten hat oder vielleicht nachdem man eine halbe Flasche Whisky getrunken und versucht hat, die vorige Familie zu vergessen, bei der man war. Das Abendessen ist vorüber, und es gibt nichts im Fernsehen, daher bist du oben in deinem Zimmer und wünschst dir, im Radio würde ein Song laufen, der von deinem Leben erzählt, und du verfluchst das Polarlicht, weil es die Funkwellen von realen Orten wie Spokane, Vancouver oder Seattle stört. Und dann klopft es plötzlich an die Tür - vorausgesetzt, sie sind so höflich oder vielleicht ausgekocht genug, um Höflichkeit als Taktik einzusetzen. Du machst also auf, und jemand tritt ein, vielleicht verärgert oder auch von gespielter Sorge erfüllt, aber irgendwie gelingt es ihm, sich auf dein Bett zu schmuggeln, und irgendwie ist er dir plötzlich zu nah, wie sehr du dich auch verrenkst. Ich bin dein Vormund - vertrau mir - und wenn du mir nicht vertraust, mach einfach mit, denn du hast schließlich keine Wahl, oder? Ich habe deine Akte gelesen. Also wehrt man sich, so gut man es in dem Alter und bei der Statur kann.«
    »Jeremy, ich weiß nicht, wie viel ich mir noch davon anhören sollte.«
    »Du bist doch diejenige, die Kayla angerufen hat.« »Das ist nicht fair. Ich wollte mehr über deine MS erfahren.« »Ich bin es so leid, dass die Leute mich bloß als Krankheit auf zwei Beinen sehen.«
    »So sehe ich dich nicht.«
    Jedes vorbeifahrende Auto ließ meinen Honda erzittern. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und dann plötzlich wusste ich es doch. »Du bist sauer auf mich, weil ich dich zur Adoption freigegeben habe.«
    Schweigen.
    »Jeremy, ich war sechzehn.« Schweigen.
    »Wenn ich könnte, würde ich es ungeschehen machen. Ich weiß nicht, was ich noch sagen soll.«
    Wir fuhren an einer Horde Teenagern vorbei, die für die Brustkrebsforschung Autos wuschen. Sie kamen mir jünger vor als Kinder. Umpa-Lumpas. Muppets. Wichtel.
    Dabei beließen wir es. Vieles blieb unausgesprochen, aber im Grunde unseres Herzens wussten wir, dass nichts dabei herauskommen würde, wenn wir das Thema noch weiter vertieften. Es konnte nur schlimmer werden - zumindest vorläufig noch.
    Wir fuhren weiter zum Krankenhaus Jeremy hängte die Hand aus dem Fenster und ließ sie im Wind hin und her

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