Elefanten vergessen nicht
wenn sie es wissen, sprechen sie darüber. Trotzdem, es könnte so was gewesen sein, und Ravenscroft entdeckte es…«
»Du meinst also, Mord aus Eifersucht?«
»Ich glaube, ja.«
»Du hältst es also für wahrscheinlicher, dass er sie erschoss und dann sich, als dass sie ihn und dann sich umbrachte?«
»Ja. Denn wenn sie ihn hätte loswerden wollen, wäre sie wohl kaum mit ihm spazieren gegangen. Sie hätte den Revolver in der Handtasche mitnehmen müssen, und dazu hätte sie schon eine recht große Handtasche gebraucht. Man muss die praktische Seite der Dinge berücksichtigen.«
»Ja«, sagte Mrs Oliver, »das muss man. Sehr interessant.«
»Für dich sicher besonders, meine Liebe, weil du Kriminalromane schreibst. Eigentlich hätte ich gedacht, dass du bessere Ideen hast. Du müsstest eher wissen, was möglicherweise passiert sein könnte.«
»Nein«, protestierte Mrs Oliver, »denn die Verbrechen in meinen Kriminalromanen sind erfunden. In meinen Geschichten geschieht alles so, wie ich es will und erfinde. Sie handeln nicht von Dingen, die tatsächlich passiert sind. So bin ich eigentlich am wenigsten geeignet, darüber zu urteilen. Ich möchte gern wissen, was du denkst. Du bist eine gute Menschenkennerin, Julia, und du hast die Ravenscrofts gekannt. Sie könnte dir irgendwann mal etwas erzählt haben – oder er.«
»Ja, ja! Warte mal einen Augenblick! Wenn du das so sagst, fällt mir sicher was ein!«
Mrs Carstairs lehnte sich im Stuhl zurück, schloss ihre Augen halb und versank in Nachdenken. Mrs Oliver blieb ruhig sitzen und sah aus wie jemand, der darauf wartet, dass das Kaffeewasser zu kochen beginnt.
»Einmal hat sie wirklich was gesagt, und ich weiß eigentlich nicht, was sie damit meinte«, begann Mrs Carstairs. »Etwas darüber, ein neues Leben anzufangen – in Verbindung mit der heiligen Therese. Therese von Avila.«
Mrs Oliver sah leicht erschreckt aus.
»Aber wie kam die heilige Therese ins Spiel?«
»Ich weiß wirklich nicht mehr genau. Sie muss ihre Lebensgeschichte gelesen haben. Jedenfalls meinte sie, wie wunderbar es sei, wenn Frauen eine Art zweite Chance bekommen. Das ist nicht genau der Ausdruck, den sie brauchte, aber etwas Ähnliches war es. Du weißt schon, wenn sie vierzig oder fünfzig werden und noch einmal neu anfangen wollen. Therese von Avila tat das. Bis dahin hatte sie nichts Besonderes gemacht. Sie war eben eine Nonne. Dann zog sie plötzlich aus und reformierte alle Klöster und wurde eine große Heilige.«
»Aber das scheint mir nicht ganz dasselbe zu sein.«
»Eigentlich nicht«, gab Mrs Carstairs zu. »Aber Frauen reden manchmal den größten Unsinn, wenn sie etwas älter werden und eine Liebesaffäre haben. Dass es nie zu spät ist und so.«
7
Z weifelnd betrachtete Mrs Oliver die drei Stufen und die Eingangstür zu dem kleinen, verkommen aussehenden Haus. Unter den Fenstern wuchsen ein paar Zwiebelgewächse, hauptsächlich Tulpen.
Sie öffnete ihr kleines Adressbuch, überzeugte sich, dass sie am richtigen Ort war, und klopfte behutsam mit dem Türklopfer an, nachdem sie auf eine elektrische Türklingel gedrückt, sich drinnen aber nichts gerührt hatte. Als weiter alles still blieb, klopfte sie wieder. Nun hörte sie Geräusche, schlurfende Schritte, asthmatisches Keuchen, und jemand bemühte sich, die Tür zu öffnen. Zusammen mit diesen Geräuschen drang undeutliches Gemurmel aus dem Briefkasten.
»Ist doch schrecklich. Jetzt klemmt das Ding schon wieder.« Schließlich wurden die Bemühungen von Erfolg gekrönt. Die Tür öffnete sich ächzend und quietschend. Eine sehr alte Frau mit verrunzeltem Gesicht, gebeugten Schultern und von Arthritis verkrümmt, sah die Besucherin an. Ihre Miene war nicht besonders freundlich. Sie verriet keinerlei Anzeichen von Furcht, nur Unwillen darüber, dass jemand es sich erlaubt hatte, an die Behausung einer echten Engländerin anzuklopfen. Sie mochte siebzig oder achtzig Jahre sein, aber sie war noch immer eine mutige Verteidigerin ihres Burgfriedens.
»Ich weiß nicht, was Sie wollen…« Sie brach ab. »Grundgütiger Himmel!«, rief sie aus, »es ist Miss Ariadne. Nein, so was! Es ist Miss Ariadne!«
»Ich finde es großartig, dass Sie mich wieder erkennen«, erklärte Mrs Oliver. »Wie geht’s Ihnen, Mrs Matcham?«
»Miss Ariadne! Es ist nicht zu fassen!«
Mrs Oliver dachte, dass es lange her war, seit jemand sie Miss Ariadne genannt hatte, aber die vor Alter brüchige Stimme klang ihr immer noch
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