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Elegie - Fluch der Götter

Elegie - Fluch der Götter

Titel: Elegie - Fluch der Götter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Carey
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Lebens darf man nicht gering achten, niemals. Das hatte ihm der alte Ngurra oft gesagt. Im Bauch der Welt waren Leben und Tod Brüder
gewesen. Wenn man den einen heraufbeschwor, dann beschwor man damit auch den Schatten des anderen.
    Zoll für Zoll kletterte Dani von den Yarru weiter und widerstand der Versuchung.
    Dass er die Augen fest zugekniffen hatte, bemerkte er erst, als er das Prickeln von Gras auf seinem Gesicht spürte und ihm ein kalter Wind durch die Haare fuhr. Jetzt begriff er, dass er das obere Ende des Schachtes erreicht hatte.
    »Dani!« Onkel Thulus Stimme klang geisterhaft von unten herauf. »Ist alles in Ordnung mit dir?«
    »Ja!«, rief er durch seine gespreizten Beine nach unten. »Onkel, es ist wunderschön!«
    Mit einer letzten Kraftanstrengung kletterte er noch einige Zoll höher, zog sich mit den Armen aus dem Schacht und ließ sich auf den Erdboden nieder. Einen Augenblick lang lag Dani einfach nur auf dem Rücken und erlaubte seinen Muskeln, sich zu entspannen. Der Himmel über ihm schien gewaltig zu sein – ein riesiges schwarzes Gewölbe, gesprenkelt mit einer Million Sterne, und Arahilas Mond floss wie ein helles und schönes Schiff dahin. In der Ferne ragten die Berge hoch und zerklüftet auf, doch um ihn herum war nichts als Gras, ein Meer aus Gras, süß duftend, silbern im Mondschein, wogend in Wellen.
    »In Ordnung, Junge!« Onkel Thulus Worte hallten schwach aus dem Schacht. »Jetzt bin ich an der Reihe.«
    Dani rollte sich auf den Bauch und spähte hinunter. »Immer nur einen Zoll nach dem anderen, Onkel.« Er streckte die Hand seitwärts und riss ein Büschel Gras aus. »Bleib immer in Bewegung.«
    Natürlich war es unmöglich. Es war ihm klar geworden, noch bevor er den Schacht zur Hälfte hinaufgeklettert war. Und er vermutete, dass Onkel Thulu es von Anfang an gewusst hatte. Er war zwar dünn genug, um in den Schacht zu passen, aber zu groß, um darin klettern zu können. Seine längeren Glieder würden sich dabei zu sehr verkrampfen. Seine Muskeln, die ein größeres Gewicht tragen mussten, würden zu stark zittern. Dann wäre er gezwungen, aufzugeben und Dani zu sagen, er müsse die Reise allein fortsetzen.
Dani hätte ihm einen Tropfen vom Wasser des Lebens geben sollen. Jetzt war es zu spät.
    Dani setzte sich aufrecht und flocht das Gras.
    Es war nicht so fest wie die Thukka-Ranken, aber es war stark und schmiegsam. Er hielt den Kopf gebeugt und arbeitete fieberhaft. Es war eine der frühesten Fertigkeiten, welche die Yarru lernten. Von Zeit zu Zeit hielt er inne, riss neue Büschel des harten, süß duftenden Steppengrases aus und fügte weitere Halme hinzu. Arahilas Mond segelte weiterhin über ihm dahin, und allmählich wurde das geflochtene Band in seinen Fingern immer länger.
    »Dani.« Onkel Thulus Stimme drang leise und erschöpft aus dem Schacht. »Dani, Junge.«
    »Ich weiß.« Er spähte über den Rand und erkannte die Gestalt seines Onkels. Er hatte noch nicht einmal den halben Weg hinter sich gebracht. »Bleib, wo du bist.« Er kniete nieder und ließ das Seil durch seine Finger nach unten laufen. Er schwankte hin und her, war einige Zoll zu kurz. »Kannst du es noch ein bisschen aushalten?«
    »Dani, hör mir zu …« Thulu hob den Kopf, sah das Seil und verstummte. Mondlicht brachte die Tränen in seinen Augen zum Glitzern. »Ach, Junge.«
    »Halte durch«, sagte Dani und wickelte das Grasseil wieder auf. »Nur noch ein bisschen.«
    Das Lied des Seins kam ihm in den Sinn, während er arbeitete. Auch wenn sich seine Lippen nicht bewegten, sprach er die Worte des Liedes doch mit seinen Fingerspitzen, während er das Gras zum Seil flocht. Jeder Strang, jede Schleife, jeder weitere Zoll war ein Gebet an Uru-Alat. Er maß kein zweites Mal ab. Das Seil war ein Gebet. Es würde so lang sein wie das Gebet. Das war genau die Länge, die er benötigte.
    Als es fertig war, kniete er sich vor den Schacht und ließ das Seil hinunter. Onkel Thulu stemmte sich mit den Füßen gegen die Wand, schlang sich das Seil um die Hüfte und verknotete es sorgfältig.
    »Fertig?«, rief Dani.
    Thulu nickte. »Fertig.«

    Dani richtete sich auf. Er spürte die Worte des Liedes zwischen seinen Händen und in seinen Adern. Während er langsam und gleichmäßig zog, lauschte er ihnen. Es lag Weisheit in ihnen, hatte der alte Ngurra gesagt – die Geheimnisse von Leben und Tod, verbunden im Tod von Uru-Alat, dem Weltengott, und der Geburt der Welt. Damals war Dani nicht weise genug

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