Elegie - Fluch der Götter

Augenblick zählte nur die Reise dorthin.
    Stunden später schienen die Berge kaum näher gekommen zu sein. Die Entfernungen waren in dieser Steppe genauso trügerisch wie in der Wüste. Weswegen Dani plötzlich einen Blick über die Schulter zum östlichen Horizont warf, vermochte er nicht zu sagen. Vielleicht war es Bedauern, vielleicht auch nur einfache Sehnsucht. Ihm war der Gedanke gekommen, dass sie Malthus möglicherweise im Osten hätten antreffen können, wenn die Steppe nicht so riesig gewesen wäre: Malthus, dessen Weisheit sie hätte leiten können.
    Was er sah, ließ ihn erzittern.
    »Onkel.« Er bohrte die Fingernägel in Thulus Arm. »Sieh nur.«
    Es waren Raben, ein ganzer Schwarm. Noch waren sie fern, ein dunkler Fleck am hellen Himmel, aber sie kamen rasch näher. Dani erinnerte sich daran, wie ein Trio Raben sie im Marschland am Rande von Vedasia entdeckt hatte und hoch über ihnen gekreist war. Wie Malthus’ Stimme donnergleich eine Warnung gerufen hatte. Der Blick des Weltenspalters ruht auf uns! Wie Fianna, die Bogenschützin von Arduan, aus dem Sattel gesprungen war und der Langbogen in ihren Händen gesungen hatte. Eins, zwei, drei, und ihre Pfeile waren himmelwärts gestiegen und hatten die spähenden Augen des Weltenspalters durchbohrt.
    Aber hier war das unmöglich.
    »Lauf«, sagte Thulu, und sie rannten los, ohne weiter nachzudenken. Sie liefen durch das hohe Gras, das ihnen gegen die Beine peitschte. Es gab keinen Schutz, nicht einmal ein Gebüsch. Nirgendwo konnten sie sich verstecken. Sobald die Raben sie erspäht hatten, würden die Fjeltrolle kommen. Hunderte. Tausende. Und dann der Königsmörder, der Mann auf dem schwarzen Pferd, der sein schwarzes Schwert gezogen hatte, um Malthus im Marasoumië zu töten. Danis Herz raste in seiner Brust. In den Wäldern von Pelmar hatte er beobachtet, wie Mäuse vor dem Flügelschatten einer
Eule davongehuscht waren. Vielleicht war es ein rascherer Tod, als von einer Schlange verschluckt zu werden, aber die Angst war noch schrecklicher.
    Er beschloss, nie wieder Springmäuse zu jagen, wenn er dieses Martyrium überleben sollte.
    Dieser Gedanke lenkte ihn zu sehr ab und machte ihn unvorsichtig. Mit dem Fuß stieß er gegen etwas Hartes und Steiniges, das im dichten Gras verborgen gelegen hatte, und er fiel der Länge nach hin. Er streckte beide Hände aus, um instinktiv die Tonflasche zu schützen, während er hart auf den Boden schlug und der Aufprall ihm den Atem nahm. Sofort tastete er nach der Flasche. Sie war nicht zerbrochen, aber der Korken hatte sich gelöst, und Feuchtigkeit glitzerte daran. Mit rasenden Bewegungen drückte Dani ihn wieder auf den Flaschenhals. Erst jetzt ließ der Druck um seine Brust nach, und er konnte schluchzend und keuchend Luft holen. Er roch das Wasser des Lebens; sein klarer, mineralischer Duft stieg wie eine Rauchsäule auf.
    »Ist alles in Ordnung mit dir?« Onkel Thulus Stimme klang angespannt.
    »Ja.« Dani schaute hinunter auf das Ding, über das er gestolpert war. Es war die Einfassung eines Luftschachtes. Er tastete nach dem Grasseil, das er geflochten und zusammengerollt in sein Gepäck gesteckt hatte. »Onkel, wir müssen die Felsbarriere inzwischen hinter uns gelassen haben.«
    Ihre Blicke trafen sich, ein Hoffnungsfunke entzündete sich in ihnen, doch dann schüttelte Thulu den Kopf. »Ohne einen Geröllhaufen unter uns ist das Seil zu kurz«, sagte er müde. »Der Sturz aus dem Schacht würde uns umbringen. Selbst wenn dem nicht so wäre, haben wir nichts, woran wir das Seil festbinden könnten, Junge.«
    Dani senkte den Kopf und strich über das geflochtene Seil. Eine Spur von Feuchtigkeit glänzte auf seinen Fingerspitzen. Sein Puls schlug schneller, und er sang leise das Lied des Seins.
    »Junge«, begann Thulu, doch dann verstummte er, als das Seil unter Danis Fingerspitzen allmählich wuchs. Stängel aus jungem, starkem Grün sprossen, dehnten sich und flochten sich selbstständig
umeinander. An einem Ende kamen Wurzeln hervor; blasse Ranken tasteten sich durch die Luft.
    Dani sang weiter und wagte dabei einen Blick in Richtung Osten. Die Raben kamen näher; sie waren nicht länger bloß ein Fleck, sondern eine keilförmige, hoch aufsteigende und sich drehende Wolke, die so groß war, dass sie einen Schatten auf die Steppe warf. Dunkelheit huschte über das wogende Gras und bewegte sich nun in Danis und Thulus Richtung. Etwas hatte die Aufmerksamkeit der Raben erregt; vielleicht war es der