Elegie - Fluch der Götter
wünschte, er täte es, aber er hatte es schon lange nicht mehr getan. Nicht seit dem Tag, an dem der Weise Gesandte vor ihnen erschienen war, mit seinem verkrümmten Finger auf sie gedeutet und jene schicksalhaften Worte ausgesprochen hatte.
Nicht solange die Zauberin von Beschtanag lebt .
Es war Aracus Altorus gewesen, der die Hand auf den Unterarm des Weisen Gesandten gelegt und den Zeigefinger ausgestreckt hatte. Es war Aracus gewesen, der seine Stimme zu einem heftigen Ruf erhoben und Fianna der Bogenschützin befohlen hatte, ihren Bogen zu senken. Und es war Aracus gewesen, der sein Pferd neben Lilias’ gelenkt und sie eindringlich angesehen hatte. Alle Worte, die je zwischen ihnen gefallen waren, hatten in jenem Blick gelegen. Er war weder ein schlechter noch ein grausamer Mann. Er hatte ihr Vertrauen geschenkt und auch Gnade erwiesen.
»Wollt Ihr Euren Anspruch nicht aufgeben, Lilias?«, hatte er sie einfach gefragt.
In ihrem Kopf erschien das Bild von Calandor, so wie sie ihn zuletzt gesehen hatte: ein gewaltiger Hügel aus grauem Stein, den gebrochenen Flügel unter sich geklemmt, der sehnige Hals im Tode ausgestreckt. Ihm in den Tod nachzufolgen war eine Sache, den Soumanië freiwillig aufzugeben eine andere. Es wäre ein Verrat an dieser Erinnerung. Solange sie lebte, konnte sie dies nicht tun. Tränen waren ihr in die Augen getreten, als sie den Kopf geschüttelt hatte. »Ich kann es nicht«, hatte sie geflüstert. »Ihr hättet mich sterben lassen sollen, als Ihr die Gelegenheit dazu hattet.«
Aracus hatte sich von ihr abgewendet und Blaise den knappen Befehl gegeben, für ihre Sicherheit zu sorgen. Es hatte Widerspruch gegeben – nicht von Blaise, aber von den anderen, vor allem von der Bogenschützin. Erregte Stimmen waren laut geworden und hatten Lilias’ Tod gefordert. Aber schließlich hatte Aracus Altorus, der verbannte König des Westens, sie niedergebrüllt.
» Ich will nicht wie unser Feind werden! «
Während alldem hatte Malthus der Gesandte nichts gesagt, sondern nur gelauscht und beobachtet. Ein schreckliches Mitleid hatte in seinem Blick gelegen, und Lilias war davor zurückgeschreckt. Seit er sich zu ihnen gesellt hatte, hatte Lilias dieses Mitleid nur allzu oft bemerkt und sich gewünscht, er würde sie nicht mehr ansehen.
Und nun, am Rande des Tales, wandte sich Malthus im Sattel um und winkte Lorenlasse von Valmaré, den Befehlshaber der Riverlorn, zu sich. Das klare Juwel auf Malthus’ Brust blitzte dabei auf und brachte den Nebel, der das Tal erfüllte, zum Gleißen.
Lorenlasse ritt vor und setzte das Mundstück eines silbernen Horns an die Lippen.
Er blies einen einzigen, silbrigen und rasch verwehenden Ton.
Einen Augenblick lang geschah nichts, dann ertönte ein antwortender Ruf aus der Tiefe des Tals, und der Nebel teilte sich wie ein Schleier und enthüllte die gepflasterte Straße, die weiter hinunterführte. Unter ihnen lag das tief eingeschnittene grüne Tal, das von einem glänzenden Fluss geteilt wurde, der umso breiter
wurde, je näher er dem Meereshafen kam. Er wurde von einer Reihe kompliziert angelegter Brücken überspannt, die fantasievolle Türme zu beiden Seiten miteinander verbanden. Die Stadt war weiß, weiß wie die Schwingen einer Möwe. Weiße Mauern umgaben die beiden Hälften, und die Stadt selbst war aus weißem Marmor errichtet; die Bauwerke waren zarter als alles, was Menschenkunst jemals bewirken konnte.
Durch sie strömte der Aven dem silbernen Meer entgegen. Sonnenlicht vergoldete seinen Wasserspiegel, der nur durch die niedrigen, anmutigen Boote gekräuselt wurde, welche hier und da vertäut waren. Und auf einer Insel mitten im Fluss stand das Haus von Ingolin dem Weisen, dessen Banner am höchsten Turm wehte und die silberne Schriftrolle des Wissens auf einem grünen Salbeifeld zeigte. Drei Weißkopf-Seeadler umkreisten verträumt den Turm und segelten auf ihren breiten Schwingen.
»Meronil.« In Blaises Stimme lag eine tiefe Bef riedigung. »Habt Ihr jemals etwas so Schönes gesehen?«
Lilias dachte an den lebenden Calandor und die Majestät seiner Gegenwart. Daran, wie er ausgesehen hatte, wenn er auf dem Rand der Klippe hockte und das Sonnenlicht auf seinen Bronzeschuppen glitzerte; an das Glitzern in seinen grün-goldenen Augen voller Weisheit. Voller Liebe. An zwei Rauchfähnchen, die in der klaren Luft aufstiegen. An den Augenblick, wenn seine mächtige Gestalt zum Flug ansetzte, an die goldenen Schuppen seiner ausgebreiteten
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