Elegie - Fluch der Götter
ihm gewichen, und nun fühlte er sich müde und erschöpft. »Du hattest recht, Onkel. Es ist zu wertvoll, um es zu verschwenden. Und zu welchen Ungeheuern würden wir wohl werden, wenn der Träger es auf diese Weise einsetzt? Nein«, sagte er abermals. »Es war meine Wahl, es einzusetzen, um dir das Leben zu retten. Das ist genug.« Er warf einen Blick hinter sich und betrachtete den Horizont. Dort glitzerte weder Sonnenlicht noch Stahl; der sich bewegende Fleck war verschwunden. »Sollen wir aufbrechen?«
»Ja, Junge.« Onkel Thulu sprang auf die Beine und hielt dann inne. Er fuhr sich mit den Fingerspitzen über die Brust und fand keine Wunden mehr, sondern nur die blassen Erhebungen lange verheilter Narben. Ein Ausdruck der Verblüffung legte sich auf sein breites Gesicht. »Was habe ich dir gesagt? Ich fürchte, es war in
gewisser Weise eine Dummheit. Irgendetwas hat sich hier verändert, Dani, nicht wahr? Ich sollte tot sein, aber ich lebe. Und du, du …«
»Ich bin der Träger«, beendete Dani den Satz leise für ihn. Zum ersten Mal überkam ihn eine Ahnung davon, was diese Worte bedeuteten, und er fühlte sich plötzlich sehr, sehr einsam. Unter Mühen stützte er sich mit seinem gesunden Arm ab und kämpfte sich auf die Beine. Als er stand, berührte er die Tonflasche vor seiner Brust und war sich ihrer Bürde deutlich bewusst. »Willst du mein Führer sein, Onkel?«
»Das will ich«, antwortete Thulu. Und er verneigte sich tief. »Ja, Junge, das will ich.«
Die Mauer war gewunden und gekrümmt wie das Rückgrat eines Drachen. Meile für Meile erstreckte sie sich um Finsterflucht, klammerte sich entschlossen an jede steil abfallende Senke und jede Erhebung in dem Tal, das die Festung des Fürsten Satoris umgab.
Sie war höher als drei Menschen übereinander und so breit, dass vier Reiter oder vier Fjel nebeneinander darauf Platz hatten. Innerhalb ihrer Begrenzung lag alles, was zu Finsterflucht gehörte. Im Norden befanden sich die Minen, in denen die Fjeltrolle schufteten und das Eisen aus der Erde gruben. Davor lagen die Öfen, in denen es geschmolzen, und die Schmieden, in denen es zu Stahl gehämmert wurde. Unter einem Tuch aus grauschwarzem Rauch floss träge der Gorgantus dahin. Dort hatte der gewitzte Speros von Haimhault eine Mühle gebaut, die den vielfältigen Bedürfnissen von Finsterflucht diente.
Dann gab es das Exerzierfeld, ein zertrampeltes Stück Land, auf dem Tanaros seine Armee ausbildete, Tag für Tag. Und dort, in südlicher Richtung, lagen die Wiesen, auf denen die stakkianischen Schafe das dunkle, drahtige Gras abweideten und fett wurden, damit sie wiederum die Bäuche der Fjel füllten. Die Tiere tranken das verdorbene Wasser des Gorgantus und gediehen dabei. Aus ihrem Blut wurde das bei den Fjel so beliebte faulig riechende Svartblod vergoren.
Tief im Westen – ein Glitzern in der Ferne – lag das Ufer des Trennenden Meeres, wo der Gesandte Dergail unter den Händen
der Wehre den Tod gefunden hatte. Dahinter, irgendwo mitten im glänzenden Meer, lag die Insel Torath, die Krone von Urulat, die Heimat der Souma, wo die sechs Schöpfer lebten und Haomane der Erstgeborene über sie herrschte.
Das alles war von der Mauer aus sichtbar, die in regelmäßigen Abständen durch Türme unterbrochen wurde. Dort waren treue Fjel postiert, die über das gesamte Reich des Fürsten Satoris wachten.
Auf einem Mauerstück zwischen zwei Türmen stand Tanaros Schwarzschwert, und er sah all dies nicht. Eine frische Brise fuhr durch seine dunklen Haare und trieb sie ihm gegen die Wangen. Er war einer der Drei, und er war gefährlich. Damit niemand das vergaß, schwebte seine Hand beständig über dem Griff des schwarzen Schwertes.
»Berichte mir von dieser Fäulnis «, sagte er zu seinem Gefährten.
Sein Blick und sein Tonfall hätten jeden geistig gesunden Kameraden zutiefst eingeschüchtert. Doch Uschahin Traumspinner seufzte nur und schlang zum Schutz vor der Herbstkälte die Arme um sich. Die spitzen Ellbogen stachen dabei hervor. Die Kälte schien tiefer zu dringen als zu seiner Zeit im Delta. Es war nicht seine Entscheidung gewesen, sich hier auf der Mauer zu treffen. »Was weißt du über die Bauweise von Finsterflucht?«, fragte er.
»Was gibt es denn da zu wissen?« Tanaros runzelte die Stirn. »Fürst Satoris hat es errichten lassen. Nach der Schlacht von Curonan hat er sich ins Tal von Gorgantum zurückgezogen und diese Berge aufgetürmt, wobei er die Macht des Gottestöters
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