Elegie - Fluch der Götter
nicht die Schritte Eures kleinen Volkes.«
Tanaros lächelte und berechnete die Strecke im Kopf. Es mussten
über fünfzig Ellen sein, mehr noch, wenn Krolgun den hüpfenden Schritt eines Gulnagel meinte. Haomanes Verbündete sollten es ruhig einmal versuchen, eine fünfzig Schritte tiefe Geröllschicht aus dem Tunnel zu karren. Ohne Fjel-Hilfe würde das Wochen, vielleicht sogar Monate dauern. Er würde sich einen Spaß daraus machen, in der Zwischenzeit ein paar Truppen auszusenden, die sich ihrer annahmen.
»In Ordnung, Jungs. Wir können nach Hause gehen.«
Obwohl er sich nun besser fühlte, weil er jeden einzelnen der blockierten Tunnel und vor allem die Vesdarlig-Passage persönlich untersucht hatte, war es eine Erleichterung für ihn, wieder an der frischen Luft zu sein. Ein kühler Wind fegte über die Ebene, und das lohfarbene Gras bewegte sich in Wellen hin und her. Es gefiel ihm nicht, wenn er keine Fernsicht hatte – auch dann nicht, wenn oben Wachtposten standen. Die stakkianischen Verräter waren kein Einzelfall gewesen; sie waren nur die Vorhut und das erste Scharmützel gewesen, dem ein langer Krieg folgen würde. Er konnte es sich nicht leisten, unaufmerksam zu sein.
Es war schon gefährlich genug gewesen, dass seine Konzentration im Kampf nachgelassen hatte.
Die Sonne wanderte allmählich nach Westen. Die Berge, die das Tal von Gorgantum umgaben, warfen einen tiefen Schatten über die Ebene. Tanaros hielt sich von diesem Schatten unnötig weit entfernt, als sie auf den Schlund der Verderbten Schlucht zuritten. Es war das letzte Mal für lange Zeit, dass er das Sonnenlicht sah. Als er in der Unbekannten Wüste gewesen war, hätte er sich nicht vorstellen können, sie einmal zu vermissen, aber jetzt …
Er erinnerte sich an ihren ersten Anblick auf dem Berge Beschtanag, als sie die Wipfel der Bäume vergoldet hatte. Nach so langer Zeit hatte das Licht sein Herz erfreut. Er dachte an Cerelinde, wie sie ihr Gesicht gen Himmel gewandt und die Arme ausgebreitet hatte. Sogar ein kurzer Anblick von Haomanes schwach scheinender und wolkenverschleierter Sonne hatte ihr Freude geschenkt.
»Wir sind gar nicht so anders, nicht wahr?«, fragte er.
»Anführer?« Krolgun, der neben ihm herlief, sah ihn fragend an.
»Ach, es ist nicht wichtig.« Tanaros schüttelte den Kopf. »Ich habe nur … nachgedacht. Was ist eigentlich der Unterschied zwischen uns und Haomanes Verbündeten, Krolgun? Wir atmen, wir essen, wir schlafen. Könntest du einen von Fürst Vorax’ Stakkianern von den Verrätern unterscheiden, wenn man dir die Augen verbinden würde?«
»Aber sicher, Heerführer!« Krolgun bleckte seine Augenzähne und tappte sich mit einer gefährlichen gelben Kralle gegen die Schnauze. »Das würdet Ihr auch, wenn Ihr ein Fjel wäret. Oder ein Wehr. Die Wehre können blind jagen, heißt es. Das würde mich nicht wundern.«
Tanaros lächelte wehmütig. Die Wehre würden ihnen nicht helfen – nicht so bald, vermutlich nie. Sie hatten einen zu hohen Preis gezahlt. »Das habe ich nicht gemeint, Junge.«
»Tut mir leid, Anführer.« Der Gulnagel zuckte die Schultern. »Bin nicht so gut im Denken. Haomanes Gabe, wisst Ihr. Fragt Marschall Hyrgolf, der hat’s drauf.« Er lachte. »Trifft Entscheidungen und so. Ihr habt ihn ja so geformt.«
»So geformt?« Tanaros war verblüfft.
»Ja, Anführer.« Krolgun sah ihn fröhlich an. »Habt Ihr das nicht gewollt?«
»Nein«, sagte Tanaros langsam. »Oder vielleicht doch.« Er runzelte die Stirn und warf einen Blick auf seine Hände, die eigenständig ihrer Arbeit nachgingen und die Zügel in festem Griff hielten. Sie waren noch immer sonnengebräunt von seiner Reise durch die Wüste, und auf den Knöcheln waren blasse Narben zu sehen. »Ich hatte es bloß noch nie so gesehen.«
»Ach ja, am Ende macht es keinen Unterschied, oder?«, meinte Krolgun und zuckte erneut die Schultern.
»Vielleicht.« Tanaros nickte. »Vielleicht macht es wirklich keinen. «
Krolgun grinste. »Na bitte!«
Haomanes Verbündete lagerten in den Mittlanden.
Ihre Feuer waren in weitem Umkreis zu sehen – hundert funkelnde
Lichter, welche die Sternenmassen widerspiegelten, die den Nachthimmel erhellten. Es war nicht die gesamte Streitmacht – noch nicht. Die pelmaranischen Truppen und die Ritter von Vedasia befanden sich noch auf dem Weg. Doch die Streitkräfte von Seefeste hatten sich bereits versammelt, und auch jene aus den kleinen Besitztümern der Mittlande waren da oder
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