Elegie - Herr der Dunkelheit
den Kissen ihres Sofas, ging an Sarika vorbei zu den Türen des Balkons und zog die schweren Seidenvorhänge zurück, die davor hingen. »Kommt her und seht.«
Er trat durch die Tür auf den Balkon. Seine verkrüppelten Finger ruhten auf dem marmornen Geländer, als er auf die mächtige Mauer hinabblickte, die Beschtanag umgab. Anhand der Gestalten, die sich in ihrem Schatten bewegten, war zu erkennen, dass sie dreimal höher war als ein groß gewachsener Mann. Es waren keine behauenen Steinblöcke zu erkennen, kein Mörtel – nur glatter und polierter Granit, in dem ein wenig Glimmer im Sonnenlicht glitzerte.
»So groß ist die Kraft des Soumanië?« Uschahin sah zu ihr hinüber.
»Ja.«
Im Tageslicht zeigte sich deutlicher, wie übel seinem Körper mitgespielt worden war. Die Wehre mochten viele Fähigkeiten besitzen,
aber Heilen gehörte offenbar nicht dazu. Wie viele Knochen, fragte sich Lilias, hatte man ihm gebrochen? Die Kinder Pelmars sangen einen Abzählreim, in dem alle Verletzungen genannt wurden, vom linken Augapfel bis zu allen zehn Fingern. Hierzulande erzählte man von den Schlägen, die er erlitten hatte, wie von einer heldenhaften Tat, die gegen den Fehlgezeugten verübt worden war, der nun dem Weltenspalter diente. Dabei wurde stets vergessen, dass es ein Kind gewesen war, das man geschlagen und dessen Knochen man gebrochen hatte. Sie waren allesamt schief zusammengewachsen, von den verformten Wangenknochen bis zum gebeugten Rumpf.
Auf ihrer Stirn erwachte der Soumanië flackernd zum Leben.
Vögel schwebten auf den Winden über dem Beschtanag und zwitscherten sich unbedeutende Nachrichten zu. Lilias berührte den Arm des Halbbluts mit ihren Fingerspitzen und sah, dass seine Knöchel auf der Brüstung weiß wurden. Es würde leicht sein, so leicht , seine Knochen neu zu gestalten, alles, was schief war, wieder gerade zu rücken, und alles, was rau war, zu glätten. Es war viel leichter, als Granit zu gestalten, wenn man Fleisch und Blut wie Tonerde formte. Und er würde schön sein, oh ja! Schöner selbst als ihre Hübschen, sobald er geheilt wäre.
»Zauberin.« Uschahins ungleiche Augen schimmerten. »Denkt nicht einmal daran.«
Und dann war er da, in ihren Gedanken, schob ihre Verteidigungswälle beiseite und legte ihre tiefsten Ängste bloß – da war sie, allein und besiegt, der Soumanië von ihrer Stirn gerissen, nackt und schutzlos, allein . Die Fessel des Daseins griff wieder nach ihr, Sterblichkeit, das Alter schlug seine Klauen in sie hinein, ihr Fleisch verdorrte, ihre Haut wurde faltig, und am Ende würde Oronin der Frohe Jäger sein Horn erklingen lassen, für sie, für sie …
»Hört auf!«, schrie Lilias laut.
»So sei es.« Er wandte sich ab und sah den Vögeln zu, wie sie durch die Luft schossen. »Lasst mir meinen Schmerz, Zauberin, und ich lasse Euch Eure Eitelkeit.«
»Ist es Eitelkeit, wenn man am Leben hängt?«, hauchte sie.
Das Halbblut beachtete sie nicht und schloss die Augen. Seine
langen, blassen Wimpern legten sich wie Wellen gegen die unebenen Ufer seiner Augenhöhlen. Einer der Vögel, die hoch in der Luft dahinsegelten, unterbrach den weiten Kreis, den er zog. Es war ein Rabe mit kräftigen Flügeln, von dessen schimmerndem Kopf ein unordentliches Federbüschel abstand. Er flog näher und krächzte und schnatterte dem Träumer etwas zu. Scharfe Falten zogen sich zwischen Uschahins Brauen zusammen.
»Möwen bringen Gerüchte mit«, sagte er und öffnete die Augen. »Und die Raben hören sie. Hohe Frau, was wisst Ihr über ein Schiff, das vom Zwergenhorn in See stach?«
Lilias starrte ihn an. »Vom Zwergenhorn?«
»Ich bin unruhig.« Uschahin machte dem Raben ein Zeichen, und der Vogel gab ein kurzes Geräusch von sich und schwang sich südwärts, in Richtung der südlichsten Küste Pelmars. »Frau Zauberin, ich würde gern mit dem Drachen von Beschtanag sprechen.«
Calandor?, fragte sie.
Bring ihn zu mir.
Sie führte ihn zu dem bewachten Ausgang auf der Rückseite der Festung, wo die Wachsoldaten sie grüßten, deren Anzahl inzwischen verdoppelt worden war und die den Träumer misstrauisch und mit unverhohlener Angst anblickten. Draußen wartete er nicht darauf, dass sie vor ihm herging, sondern stieg den gewundenen Bergpfad stetig hinan. Lilias folgte, und ein Schatten der Angst legte sich auf ihre Gedanken. Uschahin der Fehlgezeugte, der in die dunkelsten Ecken des menschlichen Geistes hineinblicken konnte. Es hieß, dass er Menschen mit nur
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