Elementarteilchen kuessen besser
Rucksack. Dabei räumte sie einige Gegenstände auf, die durch den hohen Seegang des Schiffes auf dem Boden gelandet waren. Sie hatte ungefragt beschlossen, bei Philipp zu übernachten. Das Bett war groß genug – und er würde sie brauchen, wenn es ihm in der Nacht nicht besser ging. Was zu erwarten war, da das Unwetter noch keinen Deut besser geworden war als noch vor einer Stunde. Philipp brauchte sie ... Linda bekam bei diesem ungewohnten Gedanken ein warmes Gefühl im Bauch. Plötzlich verstand sie, warum sich manche Menschen zur Krankenpflege berufen fühlten. Sie mochten vermutlich das Gefühl gebraucht zu werden – und anderen in ihrer Not beizustehen.
Fünf Minuten später war sie schon wieder in Philipps Kabine. Er schien zu schlafen. Deshalb setzte sie sich auf einen der beiden Sessel, nahm sein Buch von Dan Brown und begann zu lesen. Doch weit kam sie nicht. Es klopfte leise. Simon stand mit Betty vor der Tür.
„Wie geht es ihm?“, fragte sein Freund mit zerfurchter Stirn.
„Etwas besser, glaube ich. Er schläft jetzt“, fügte Linda leise an.
„Ich habe mit dem Steward gesprochen. Das Wetter müsste sich in den nächsten Stunden beruhigen. Hoffen wir's. Ich bin dir jedenfalls sehr dankbar, dass du dich so gut um ihn kümmerst. Er hatte anscheinend schon immer diese Probleme. Aber wenn man damit alleine fertig werden muss, ist es noch viel übler.“ Nach einer kurzen Pause fragte Simon: „Glaubst du, er schläft durch? Sonst würde ich heute Nacht bei ihm bleiben, falls er etwas braucht.“
„Nicht nötig, ich habe mein Schlafzeug vorhin rübergeholt. Er hat sich schon zweimal erbrochen. Und ich weiß nicht, ob das Schlimmste wirklich vorüber ist.“
Dankbar nahm er Linda in den Arm und drückte sie. „Vielen Dank, dass du für ihn da bist.“ Er ließ sie los und meinte mit einem Augenzwinkern: „Ich hoffe, er ist morgen Abend wieder fit. Es wäre schade, wenn er den Ball verpassen würde. Gute Nacht.“
Nachdem Betty ihre Freundin auch umarmt und ihr ein „Trotzdem viel Spaß“ ins Ohr geflüstert hatte, ging Linda ins Bad und putzte sich die Zähne. Es war noch nicht extrem spät, aber schon spät genug – und der Tag ereignisreich und turbulent.
Versonnen dachte sie an die kleine Bucht, in der sie sich wie im siebten Himmel gefühlt hatte. Philipp hatte ihr eine Seite ihres Lebens eröffnet, die sie fast nicht mehr gehofft hatte, in ihrem Alter noch kennenzulernen. Gefühle, die so beängstigend fremd und wild waren, dass sie nie damit gerechnet hätte, sich ihnen so bedingungslos hingeben zu können. Und doch waren sie in ihrer Reinheit so wunderschön und belebend, dass sie wie ein Jungbrunnen zu wirken schienen.
Sie würde mit Philipp schlafen, das wusste sie nun mit großer Gewissheit. Er sollte ihr erster Mann sein. Dafür musste er nur noch gesund werden.
Als wieder eine Welle das Schiff in eine Schieflage brachte, schob sie einen schweren Sessel vor Philipps Seite, damit er nicht während des Schlafens aus dem Bett rollte. Ihre Seite lag zur Wand hin und hatte nur einen kleinen Durchgang. Deshalb konnte sie diese Vorkehrung bei sich selbst nicht treffen. Es würde sicherlich gehen, tröstete sie sich.
Philipp stöhnte im Schlaf und begann wieder zwanghaft zu schlucken. Schnell griff Linda wieder nach einem frischen Einwegbehälter. Doch als Philipp sich vom Würgereflex erschreckt aufrichtete, kam nur noch Schleim.
„Sch-sch“, beruhigte Linda ihn und strich ihm über die Stirn, nachdem er sich wieder kraftlos hatte zurücksinken lassen. So eine Quälerei , dachte sie. Für nichts und wieder nichts.
Nachdem sie den Waschlappen wieder ausgewaschen hatte, legte sie ihn auf seine Stirn und öffnete die Balkontür, um kurz zu lüften. Danach löschte das Licht und kroch vorsichtig unter seine Decke. Herzklopfend lag sie neben Philipp und versuchte, sich mit diesem ungewohnten Gefühl vertraut zu machen. Einen Körper neben sich zu spüren. Eine Decke mit ihm zu teilen.
Langsam tastete sie sich mit den Fingern bis zu seinem Rücken vor und ließ sie neben seiner Niere ruhen. Sie konnte nicht leugnen, dass sich in ihr ein tröstliches Gefühl breitmachte. Das Gefühl, heimgekommen zu sein.
Doch schon machte sich in ihrem Kopf ein beklemmender Gedanke breit und ersetzte alles Angenehme mit unbekannten Verlustängsten. Wie sollte es nur weitergehen? Im Moment war alles rosig, himmlisch und toll. Aber was wäre in fünf Tagen, wenn der Urlaub zu Ende war?
Innerlich
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