Elementarteilchen kuessen besser
großer, starker Mann – und doch so hilfsbedürftig und schwach. Sie war noch nie der Florence-Nightingale-Typ gewesen. Es lag ihr nicht, um Menschen herumzuwuseln und sie mit einem mütterlichen Lächeln zu beglucken. Aber Philipp rief dieses Bedürfnis in ihr wach. Sie wollte ihn am liebsten in die Arme nehmen, und ihn nie wieder loslassen, bis es ihm wieder besser ging. Ihm zärtliche Küsse auf die klamme Stirn geben. Ihm den Tee zur Not teelöffelchenweise einflößen.
Vielleicht lag es daran, dass vorher noch nie jemand ihre Hilfe benötigt hatte. Sie war zur Selbstständigkeit erzogen worden und hatte sich wegen der robusten Gesundheit ihrer Eltern auch nie um sie kümmern oder gar sorgen müssen. Außerdem hatte sie zu wenige enge soziale Kontakte gehabt, als dass sie im nichtvorhandenen Freundeskreis in die Pflicht gestellt worden wäre. Und Betty und Anna gluckten lieber selbst, als dass sie sich beglucken ließen.
„Ich setze mich auf den Sessel, dann kannst du ruhiger schlafen“, flüsterte Linda.
„M-mh“, gab Philipp von sich und suchte mit geschlossenen Augen nach ihrer Hand, um sie festzuhalten. „Erzähl mir was. Von dir.“
Linda schmunzelte. „Was soll ich dir erzählen?“
„Egal.“
Sie überlegte kurz. „Du warst vor ein paar Tagen so erstaunt, dass ich nie in einem Chor oder einer Band gesungen habe. Es lag nicht nur daran, dass ich dafür viel zu schüchtern gewesen war. Singen symbolisierte für mich einzig und allein Überlebenszweck und süße Provokation.“ Ein verständnisloses Grummeln war von Philipp zu hören, der ungläubig und doch vorsichtig die Augen aufmachte. „Tja, dass ich strukturiert und organisiert bin, das weißt du schon. Dass ich aber nicht umsonst so geworden bin, liegt an meinen Eltern.“
Zum ersten Mal in ihrem Leben lehnte sich Linda innerlich zurück und erzählte einem Fremden gegenüber von ihrer Kindheit. Von ihrer walkürenhaften Mutter, die Richard Wagner über alles liebte, und Karriere und ihr einziges Kind erfolgreich unter einen Hut gebracht hatte. Außerdem dass zuhause klare Regeln und Grenzen geherrscht hatten, an die sich alle zu halten hatten. Ebenso wie deutliche Zielvorgaben, die Lindas Leistungen in der Schule betrafen. Deshalb hatte sie sich manchmal in ihrem Elternhaus erdrückt gefühlt, dass sie kaum noch atmen konnte.
Manchmal waren sie bei ältlichen Kollegen ihres Vaters zum Kaffee eingeladen gewesen, wo Linda brav, in plüschigen Sofas versunken und vom biederen Einrichtungsstil erdrückt, hochintelligenten Erwachsenengesprächen – die überaus interessanten Aspekte der theoretischen Grammatik des Deutschen betreffend – lauschen musste. In solchen Situationen hätte sie am liebsten angefangen, Schimpfwörter der übelsten Sorte in die Runde zu schreien, zu pupsen und zu rülpsen, nur um ihre Eltern vor den ach so geachteten Kollegen zu kompromittieren.
Linda freute sich, dass dieser Gedanke bei Philipp eine kleine Reaktion entlockte, während er mit geschlossenen Augen dalag. Dann konnte es ihm schon mal nicht so schlecht gehen. Gedankenverloren strich sie ihren Pferdeschwanz glatt und dachte wieder an ihre Mutter, die sich immer standhaft geweigert hatte, ihren selbst angenommenen Rufnamen 'Linda' zu benutzen.
„Weshalb meine Mutter mir einen so unmöglichen Namen gab, kann ich dir nur mit ihrer Liebe zum Ring der Nibelungen erklären. Woglinde ist eine der drei Rheintöchter. Der Name inspirierte einige der Jungs aus meiner Klasse zu fantasievollen Assoziationen, die meinen wogenden Busen betrafen. Nicht sehr schmeichelhaft. Aber sie bestätigen, wie ich jetzt im Nachhinein feststellen muss, deine Vermutungen, was den Grund ihrer Aufmerksamkeit mir gegenüber betraf.“
Da Philipp so verloren in seinem Bett wirkte, stopfte sich Linda ein Kissen in den Rücken, legte wieder den Arm um ihn und rutschte etwas runter. Wie auf Bestellung drehte er sich zu ihr und kuschelte sich mit einer Gesichtshälfte an die Außenseite ihrer Brust. Er seufzte tief und flüsterte rau: „Was würde ich jetzt nicht alles dafür geben, gesund zu sein.“
Linda griff nach Philipps Hand und streichelte tröstend über seine langen Finger. Als zärtliche Antwort krümmten sich diese um ihre eigenen.
Dann erzählte sie noch von ihrem Vater, der ein typisch zerstreuter Professor gewesen war, den selbst Cary Grant in Liebling, ich werde jünger nicht besser hätte spielen können. Er hatte sich früher liebend gern in seinem
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