Elementarteilchen kuessen besser
würde sie sich in einem so femininen und verführerischen Kleid genauso fremd vorkommen wie eine Nonne in einem Freudenhaus. Sie hätte das Gefühl, alle Männer würden ihr sabbernd und hechelnd hinterher starren. So im Mittelpunkt zu stehen war sie überhaupt nicht gewohnt.
Halt!
Wie ihr gerade entsetzt bewusst wurde, ging sie davon aus, dass sie in diesem Kleid sensationell aussehen würde. Ein kleiner Teil in ihrem Herzen schien danach zu lechzen, als Femme fatale von attraktiven Männern wahrgenommen zu werden. Du meine Güte, so dringend nötig hast du es nun wirklich nicht! , schalt sie sich in Gedanken.
Das Kleid wirkte viel zu modisch und extravagant und vor allem war es mit dem tiefen V-Ausschnitt viel zu sinnlich geschnitten, als dass es zu ihrem nüchtern-sachlichen Charakter passte. Dann schon eher zu Mae West, die einen attraktiven Mann auch auf die zum Kleid passende Art begrüßen konnte: „Ist das ein Revolver in Ihrer Tasche oder freuen Sie sich nur, mich zu sehen?“
Nein, nein, schlag dir das nur aus dem Kopf. Die leichte Sommerhose mit dem schlichten T-Shirt, die sie gerade trug, passte bedeutend besser zu ihr als dieses sündige Etwas im Schaufenster. Solch ein Kleid könnte Betty tragen, aber nicht sie. Ja, für Betty war das sicherlich etwas. Sie sollte ihr ans Herz legen, es einmal anzuprobieren.
Zufrieden mit ihrem Vorsatz, ging sie langsam weiter und wurde von einem zerstreuten, älteren Herrn leicht angerempelt.
„Oh, verzeihen Sie, meine Dame“, murmelte er und zockelte weiter. Der Anblick seiner Rückseite gepaart mit seinem schlurfenden Gang erinnerte Linda an einen Neandertaler im Armani-Anzug. Obwohl er gut gekleidet war, wirkte er doch ein bisschen verlottert. Er hielt die Schultern beim Gehen etwas nach vorne geschoben, was ihm eine leicht gebückte Körperhaltung einbrachte. Der Kopf mit den fransigen, ergrauten Haaren steckte dadurch optisch direkt zwischen den Schultern, während die seitlich leicht abstehenden Arme bei jedem Schritt hin und her schwangen. Seine Zehenspitzen zeigten extrem nach außen, was seine kurzen Beine in eine leichte O-Form zwang. Dadurch hatte man den Eindruck, zwischen seinen Schenkeln würde eine übervolle Windel hängen. Das passte zu seinem Gesamtbild wie die berühmte Faust aufs Auge.
Während sie den Mann noch fasziniert beobachtete, bemerkte sie, dass ihm ein kleiner Gegenstand aus dem Sakko fiel, während er in der Innentasche nach etwas suchte.
„Moment mal“, rief Linda, bevor sie zurück hastete, um den Gegenstand aufzuheben. Doch der Mann hatte sie nicht gehört.
Als sie sich eifrig mit dem verloren gegangenen Kugelschreiber in der Hand aufrichtete, knallte plötzlich ein langer, harter Gegenstand seitlich an ihren Kopf. Mit einem überraschten Aufschrei ging sie zu Boden wie ein zweitklassiger Preisboxer. Tränen schossen in ihre Augen und funkelnde Glühwürmchen schwirrten hektisch über die verschwommene Decke. Während es noch heftig in ihrer Schläfe pochte, kniff Linda die Augen kurz zu, um das Karussell in ihrem Kopf zu stoppen und wieder klarer sehen zu können. Als sie sie erneut öffnete, hätte sie die Augen am liebsten gleich wieder geschlossen, da plötzlich Philipp Grafs erschrockenes Gesicht über ihrem erschien.
„Oh Gott, entschuldigen Sie bitte! Ich habe Sie nicht gesehen“, drang seine bestürzte Stimme an ihr Ohr, während er sich seine verrutschte Hornbrille wieder zurück auf die Nase schob.
Vorsichtig half er ihr dabei, sich aufzusetzen, und ließ sich auf einem Knie vor ihr nieder, um sich ihre Prellung genauer anzusehen. „Ich war mit dem Flipchart auf dem Weg in den Konferenzraum, habe mich dabei kurz zu einem Kollegen umgedreht und wollte dann weitergehen. In dem Moment waren Sie plötzlich vor mir und haben das Teil mit voller Wucht an den Kopf bekommen!“ Echter Schmerz verzog sein Gesicht. Wenigstens tat es ihm aufrichtig leid.
„Ist schon okay“, versuchte Linda abzuwiegeln, um so schnell wie möglich wieder weg von ihm und hin zu ihren Freundinnen zu kommen.
„Nein, ist es nicht. Soll ich Sie zum Schiffsarzt bringen, damit er Sie untersuchen kann?“, fragte Philipp, während er sie mit besorgten Augen musterte. Andere Passanten waren stehen geblieben und beobachteten die Szene aus einiger Entfernung.
Linda, der der ganze Wirbel um ihre Person peinlich war, merkte zu allem Überdruss, dass er nicht so schnell von ihrer Seite weichen würde. Jedenfalls nicht, bis sie gut aufgehoben
Weitere Kostenlose Bücher