Elementarteilchen kuessen besser
Bettina sich in Fahrt geredet hatte, quasselte sie manchmal so schnell, dass man sie fast nicht mehr verstand. „Du sollst einfach mal die Möglichkeit haben, du selbst zu sein und neue Leute kennenzulernen, die nichts von deinem Dreihundert-Punkte-IQ wissen und dich nicht von vornherein als Intelligenzbestie abstempeln, wie es schon so viele in deinem Leben getan haben.“ Kurz holte Betty nach diesem langen Satz Luft. Aber nur kurz. „Und genau deshalb haben wir beschlossen, zu deinem runden Geburtstag einen Wahnsinnsurlaub zu buchen, in dem du mal so richtig abschalten und deine Seele baumeln lassen kannst – ohne Termine, ohne Hektik, ohne Habilitation. Und in dem du die Möglichkeit hast, ungezwungen andere Menschen kennenzulernen. Ganz ohne Vorurteile.“
Puh, das hörte sich für Linda wie ein schrecklicher Albtraum an, aus dem sie schweißgebadet mit einem Schrei auf den Lippen erwachte. Zweifel breiteten sich auf ihrem Gesicht aus, während sie zwischen den beiden hin und her schaute.
Das Leben hatte sie in dieser Beziehung geprägt. Warum sollte es ihr auf diesem Schiff anders ergehen als sonst? Aber sie würde es – ihren Freundinnen zuliebe – versuchen, da sich die beiden immer so rührend um sie kümmerten und die wichtigsten Menschen in ihrem Leben darstellten. Obwohl Linda grundsätzlich von einem Scheitern der Mission ausging. „Ich werde mir Mühe geben, ganz ehrlich“, versprach ihnen Linda mit schlechtem Gewissen.
Sie hatte die beiden mitten im Studium kennengelernt. Die zwei Jahre ältere Bettina büffelte damals gerade für ihre Maschinenbauprüfungen und hatte bei allen Freizeitaktivitäten Anna in ihrem Schlepptau. Heute arbeitete Betty in der Entwicklungsabteilung eines großen Automobilzulieferers. Und Anna war nun mit ihren mittlerweile vierunddreißig Jahren als führende Chemikerin in der Forschung eines pharmazeutischen Unternehmens tätig.
Seit ihrem ersten, zufälligen Zusammentreffen war Lindas Leben nicht mehr so, wie es einmal war. Bettina hatte mit ihrem offenen und einnehmenden Wesen Lindas Schutzmauern niedergewalzt, wie ein Bulldozer auf Kollisionskurs. Schutzmauern, die sie ihr Leben lang gehegt und gepflegt hatte, um sich vor emotionalen Verletzungen und Enttäuschungen zu schützen. Verletzungen seitens ihrer früheren Mitschüler, Enttäuschungen durch ihre Eltern. Von da an waren die Drei eine eingeschworene Gemeinschaft, die sich als weibliches Kleeblatt an einer Männer dominierten, technischen Universität durchsetzte.
Endlich waren sie am Schalter angekommen. Nach einer kurzen und schmerzlosen Anmeldung durften sie bald darauf über eine breite Gangway zum Schiff hochgehen. Linda atmete aufgeregt ein. Wenn man dem Luxusliner so nahe war, wirkte er noch weißer und imposanter als aus der Entfernung. Linda fühlte sich wie in einem Traum und zwickte sich unauffällig, während sie sich Schritt für Schritt einem Urlaub näherte, den sie noch nicht einmal im Entferntesten einschätzen konnte.
Würde sie es wirklich schaffen, abzuschalten und ganz sie selbst zu sein? Eine Frau, die nur nach ihrem Auftreten und ihrem Äußeren beurteilt wurde, nicht aber nach ihrem Intellekt – wie es schon ihr ganzes junges Leben lang war? Sie würde es versuchen. Aber sie würde sich nicht verstellen, das schwor sie sich. Entweder kamen die Leute so mit ihr aus, wie sie war, oder sie sollten es bleiben lassen.
Am Ende der Gangway mussten sie kurz warten, bis von einem Ehepaar vor ihnen ein Willkommensfoto mit Tänzern in exotischen Kostümen gemacht worden war. Als sie drankamen, rückte Betty in die Mitte, schloss ihre beiden Freundinnen in ihre langen Arme und grinste gut gelaunt in die Kamera, während sich zwei südamerikanische Tänzer mit durchtrainierten Körpern in eng anliegenden Kostümen an Annas und Lindas Seite in Position stellten.
Natürlich konnte Betty es sich nicht nehmen lassen, ihren Freundinnen ins Ohr zu raunen: „Die beiden würde ich auch nicht von der Bettkante stoßen – aber bei meinem Glück sind die zwei garantiert vom anderen Ufer.“
Als sie weitergingen, erblickten sie vor sich an die fünfzig uniformierte Crewmitglieder, die Spalier stehend die ankommenden Passagiere begrüßten, um sie einzeln zu ihren Kabinen zu führen.
Das war schon ... beeindruckend. Keine Frage.
Mit großen Augen folgte Linda dem livrierten Zimmermädchen, das sich mit traumwandlerischer Sicherheit durch ein Gewirr von vornehm eingerichteten Räumlichkeiten,
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