Elementarteilchen
aus, um die Gewebe mit Sauerstoff zu versorgen; falls ihre Atmung noch schwächer werden sollte, werde erwogen, sie künstlich zu beatmen. Im Augenblick steckte eine Kanüle, die mit dem Tropf verbunden war, oberhalb des Ellbogens in ihrem Arm, und an ihrer Schläfe war eine Elektrode befestigt, das war alles. Ein Sonnenstrahl drang durch das schneeweiße Laken und beleuchtete eine Strähne ihres herrlichen blonden Haars. Ihr Gesicht mit den geschlossenen Augen, das nur ein wenig blasser war als sonst, wirkte außerordentlich friedlich. Alle Furcht schien sie verlassen zu haben; sie war Michel noch nie so glücklich vorgekommen. Allerdings hatte er schon immer dazu geneigt, Koma und Glück zu verwechseln; aber trotzdem kam sie ihm außerordentlich glücklich vor. Er strich ihr mit der Hand über das Haar, küßte sie auf die Stirn und auf die warmen Lippen. Es war natürlich zu spät; aber trotzdem war es schön. Er blieb in ihrem Zimmer, bis der Abend anbrach. Als er wieder auf dem Flur war, schlug er ein Buch mit buddhistischen Meditationen auf, die W.Y. Evans-Wentz gesammelt hatte (er hatte das Buch seit mehreren Wochen in der Tasche; es war ein ganz kleines Buch mit dunkelrotem Einband).
Mögen alle Wesen im Osten,
Alle Wesen im Westen,
Alle Wesen im Norden,
AlleWesen im Süden
Glücklich sein
Und ohne Feindschaft leben.
Es war nicht nur ihrer beider Fehler gewesen, dachte er; sie hatten in einer schwierigen Welt gelebt, einer Welt voller Wettkämpfe und verbitterter Auseinandersetzungen, voller Eitelkeit und Gewalt; sie hatten nicht in einer harmonischen Welt gelebt. Andererseits hatten sie auch nichts getan, um diese Welt zu verändern, sie hatten nicht im geringsten dazu beigetragen, sie zu verbessern. Er sagte sich, daß er Annabelle ein Kind hätte machen sollen; und plötzlich erinnerte er sich, daß er es getan hatte, oder besser gesagt, daß er damit begonnen hatte, daß er wenigstens die Idee akzeptiert hatte; und dieser Gedanke erfüllte ihn mit großer Freude. Er begriff nun die Ruhe und den Frieden, die ihn in den letzten Wochen erfüllt hatten. Jetzt vermochte er nichts mehr zu tun, niemand vermag etwas gegen das Reich der Krankheit und des Todes zu tun; aber wenigstens hatte sie ein paar Wochen lang das Gefühl gehabt, geliebt zu werden.
Wenn jemand den Gedanken an die Liebe praktiziert
Und sich zu keiner verwerflichen Tat hinreißen l äßt ;
Wenn er die Bande der Leidenschaft zerreißt
Und seinen Blick dem WEG zuwendet,
Wird er in Brahmas Himmel wiedergeboren,
Weil er es geschafft hat, diese Liebe zu praktizieren;
Ihm wird eine baldige Erlösung zuteil
Und er gelangt ins Reich des Unbedingten;
Wenn er nicht tötet und niemandem Schaden zufügt,
Wenn er niemanden erniedrigt, um sich selbst
hervorzutun,
Wenn er die universelle Liebe praktiziert, Wird er beim Tod auch keinen Haß empfinden.
Am Abend kam Annabelles Mutter, um zu hören, ob es etwas Neues gebe. Nein, die Situation sei noch die gleiche; bei tiefem Koma könne der Zustand sehr lange unverändert bleiben, erklärte ihr die Krankenschwester geduldig, es vergingen manchmal Wochen, ehe man eine Prognose aufstellen könne. Sie ging in das Zimmer, um ihre Tochter zu sehen, und kam nach einer Minute schluchzend wieder heraus. »Ich verstehe das nicht ...«, sagte sie und schüttelte dabei den Kopf »Ich verstehe nicht, wie das Leben so ist. Sie war ein braves Mädchen, wissen Sie. Sie war immer liebevoll und hat nie Schwierigkeiten gemacht. Sie hat sich nie beklagt, aber ich wußte, daß sie nicht glücklich war. Sie hat im Leben nicht das bekommen, was sie verdient hätte.«
Sichtlich entmutigt ging sie kurz darauf wieder fort. Seltsamerweise war er weder hungrig noch müde. Er lief im Flur auf und ab, fuhr in die Eingangshalle hinunter. Ein Antillaner, der am Empfangsschalter saß, löste Kreuzworträtsel; er nickte ihm zu. Er holte sich eine heiße Schokolade aus dem Automaten und näherte sich der Fensterwand. Der Mond schwebte zwischen den Hochhäusern; ein paar Autos fuhren über die Avenue de Châlons. Er hatte genügend medizinische Kenntnisse, um zu wissen, daß Annabelles Leben an einem Faden hing. Ihre Mutter hatte recht, wenn sie sich weigerte, die Sache verstehen zu wollen; der Mensch ist nicht fähig, den Tod hinzunehmen: weder seinen eigenen noch den der anderen. Er ging auf den Antillaner zu und bat ihn um etwas Schreibpapier; leicht überrascht reichte dieser ihm einen Stapel
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