Elementarteilchen
Michel in die HilbertRäume; dann machte er sich mit der Maßtheorie vertraut, entdeckte die Integrale von Riemann, von Lebesgue und von Stieltjes. Während der gleichen Zeit las Bruno Kafka und onanierte im Schienenbus. An einem Nachmittag im Mai hatte er im Schwimmbad von La Chapelle-sur-Crécy, das gerade eröffnet worden war, das Vergnügen, die beiden Enden seines Badetuchs zur Seite zu schieben, um zwei zwölfjährigen Mädchen seinen Schwanz zu zeigen; er hatte vor allem das Vergnügen zu sehen, daß sie sich gegenseitig anstießen und für den Anblick interessierten; er tauschte mit einer der beiden, einer kleinen Dunkelhaarigen mit Brille, einen langen Blick. Bruno war zu unglücklich und zu frustriert, um sich wirklich für die Psyche anderer Menschen zu interessieren, aber dennoch war ihm klar, daß sich sein Halbbruder in einer Situation befand, die schlimmer war als seine eigene. Oft gingen sie gemeinsam ins Café; Michel trug lächerliche Anoraks und Wollmützen, er konnte nicht kickern; die meiste Zeit redete Bruno. Michel rührte sich nicht, er redete immer weniger; er blickte Annabelle mit aufmerksamen, regungslosen Augen an. Annabelle gab nicht auf, für sie glich Michels Gesicht dem Kommentar einer anderen Welt. um die gleiche Zeit las sie Die K reutzer-Sonate, gl aubte einen Augenblick, ihn durch dieses Buch zu verstehen. Fünfundzwanzig Jahre später erkannte Bruno, daß sie sich in einer unausgeglichenen, unnor- malen Situation ohne jede Zukunftsaussicht befunden hatten; wenn man die Vergangenheit betrachtet, hat man immer den - vermutlich trügerischen - Eindruck eines gewissen Determinismus.
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NORMALTEMPO
So bemerkten in revolutionären Zeiten z. B. diejenigen, die sich das Verdienst zuschrieben, bei ihren Zeitgenossen die anarchischen Leidenschaften wachgerufen zu haben, nicht, daß sie ihren Triumph nur einer Stimmung verdankten, die aus dem Ganzen der Lage hervorging.
(Auguste Comte: Die Soziologie: Cours dephilosophie positive, L ektion 48)
Die Mitte der 70er Jahre wurde in Frankreich durch den Skandalerfolg gekennzeichnet, den Phantom of the Paradise, Clockwork Orange und Die Ausgebufften erzielten: drei völlig unterschiedliche Filme, deren gemeinsamer Erfolg jedoch die kommerzielle Relevanz einer »Jugendkultur« bewies, die im wesentlichen auf Sex und Gewalt beruhte und im Laufe der folgenden Jahrzehnte immer größere Marktanteile erobern sollte. Die in den 60er Jahren zu Wohlstand gekommene Generation um die Dreißig dagegen konnte sich völlig mit Emmanuelle identifizieren: Der 1974 herausgekommene Film von Just Jaeckin, der einen neuartigen Zeitvertreib, exotische Schauplätze und Phantasmen vor Augen führte, war innerhalb einer Kultur, die tief in der jüdisch-christlichen Tradition verwurzelt blieb, für sich allein ein Manifest für den Übergang in die Freizeitgesellschaft.
Allgemeiner gesehen konnte die Bewegung für die Liberalisierung der Sitten 1974 wichtige Erfolge verzeichnen. Am
20. März wurde in Paris der erste Vitatop Club eröffnet, der auf dem Gebiet des Fitneßtrainings und des Körperkults eine bahn-
brechende Rolle spielen sollte. Am 5. Juli wurde das Gesetz verabschiedet, das das Volljährigkeitsalter auf achtzehn Jahre herabsetzte, und am 11. Das Gesetz, das die Scheidung mit gegenseitigem Einverständnis ermöglichte und den Ehebruch aus dem Strafgesetzbuch verschwinden ließ. Und am 28. November wurde nach einer hitzigen Debatte, die von den meisten Kommentatoren als »historisch« bezeichnet wurde, mit Unterstützung der Linken das von Simone Veil eingebrachte Gesetz verabschiedet, das die Abtreibung legalisierte. Die christliche Anthropologie, die in den westlichen Ländern lange vorherrschend war, räumte tatsächlich allem menschlichen Leben von der Zeugung bis zum Tod eine uneingeschränkte Bedeutung ein; diese Bedeutung hängt mit der Tatsache zusammen, daß die Christen an die Existenz einer Seele im Inneren des menschlichen Körpers glaubten -, einer prinzipiell unsterblichen Seele, die dazu bestimmt war, später mit Gott vereint zu werden. Unter dem Druck des Fortschritts innerhalb der Biologie sollte sich im 19. und 2o. Jahrhundert allmählich eine materialistische Anthropologie entwickeln, die von völlig anderen Voraussetzungen ausging und in ihren ethischen Empfehlungen weitaus bescheidener war. Zum einen wurde dem Fötus, jener kleinen Anhäufung von Zellen in fortschreitendem Differenzierungsprozeß, nur noch unter der
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