Elementarteilchen
die Pille war von nun an rezeptfrei in allen Apotheken erhältlich, wenn sie auch noch nicht von der Krankenkasse bezahlt wurde. Von diesem Augenblick an wurde die sexuelle Befreiung, die bis dahin leitenden Angestellten, freiberuflich Tätigen und Künstlern - sowie gewissen Kleinunternehmern - vorbehalten war, breiten Bevölkerungsschichten zugänglich gemacht. Es ist nicht uninteressant, daß diese sexuelle Befreiung manchmal als Traumvorstellung von einer Gemeinschaft dargestellt wurde, während es sich in Wirklichkeit nur um eine weitere Etappe auf dem unaufhaltsamen Siegeszug des Individualismus handelte. Wie der schöne Begriff »Schutzgemeinschaft der Ehe« andeutet, stellten das Ehepaar und die Familie die letzte Insel des Urkommunismus im Schoß der liberalen Gesellschaft dar. Die sexuelle Befreiung hatte die Zerstörung dieser letzten Gemeinschaftsformen zur Folge, der letzten Zwischenstufen, die das Individuum vom Markt trennten. Dieser Zerstörungsprozeß hält bis zum heutigen Tag an.
Nach dem Essen veranstaltete das Organisationskomitee des ORTS DER WANDLUNG häufig Tanzabende. Diese Wahl erschien für ein Zentrum, das allen neuen geistigen Strömungen aufgeschlossen gegenüberstand, auf den ersten Blick verwunderlich, war aber nur der deutliche Beweis dafür, daß der Tanzabend als sexueller Begegnungsmodus in nichtkommunistischen Gesellschaften unübertroffen bleibt. Die primitiven Gesellschaften, bemerkte Frédéric Le Dantec, organisierten ihre Feste ebenfalls auf der Basis von Tanz oder gar Trance. Daher waren auf der Rasenfläche mitten im ORT eine Lautsprecheranlage und eine Bar aufgebaut worden; und die Leute hopsten bis zu vorgerückter Stunde im Mondschein. Für Bruno war das eine zweite Chance. Die jungen Mädchen, die auf dem Campingplatz waren, besuchten diese Abende allerdings nur selten. Sie gingen lieber in die Diskotheken der näheren Umgebung (ins B ilboquet, ins Dynasty, ins 2001 oder eventuell ins Pirates ), die EventAbende mit Schaumparties, Männerstriptease oder Porno-Stars boten. Im ORT blieben nur zwei oder drei Jungen mit träumerischem Temperament und kleinem Glied zurück. Sie begnügten sich übrigens damit, in ihrem Zelt zu bleiben und schlaff auf einer verstimmten Gitarre zu klimpern, während die anderen nur deutliche Verachtung für sie übrig hatten. Bruno fühlte sich diesen Jungen nahe; doch wie dem auch war, in Ermangelung junger Mädchen, die sowieso praktisch unmöglich zu erobern waren, hätte er gern, um den Ausdruck eines Newlook-L esers zu verwenden, den er in der Cafeteria der Raststätte Angers Nord kennengelernt hatte, »seinen Stachel in irgendeine Speckschwarte gebohrt«. Von dieser Hoffnung erfüllt ging er in weißer Hose und dunkelblauem Polohemd dorthin, wo sich die Quelle des Lärms befand.
Als er den Blick über die Gruppe der Tanzenden schweifen ließ, bemerkte er sogleich Karim. Er hatte die Katholikin im Stich gelassen und konzentrierte all seine Bemühungen auf eine bezaubernde Rosenkreuzerin. Sie und ihr Mann waren am Nachmittag eingetroffen: Sie waren groß, ernst und schlank und schienen aus dem Elsaß zu sein. Sie hatten sich in einem riesigen, verwinkelten Zelt mit lauter Vorbauten und versetzten Wänden niedergelassen, für dessen Aufbau der Mann vier Stunden gebraucht hatte. Zu Beginn des Abends hatte er Bruno mit Beschlag belegt, um ihm die verborgenen Schönheiten des Rosenkreuzes darzulegen. Seine Augen blitzten hinter den kleinen runden Brillengläsern; er war ein richtiger Fanatiker. Bruno hatte nur mit halbem Ohr zugehört. Den Worten des Mannes zufolge war die Bewegung in Deutschland entstanden; sie basiere natürlich auf gewissen alchimistischen Studien, aber sie müsse ebenfalls mit der rheinischen Mystik in Beziehung gesetzt werden. Vermutlich irgend so ein Schwulen- und Nazikram. »Steck dir doch das Kreuz in den Arsch, Alter ...«, dachte Bruno träumerisch, während er aus den Augenwinkeln den Hintern der äußerst hübschen Frau des Schwätzers betrachtete, die vor dem Gaskocher kniete. »Und schieb die Rose hinterher ...«, fügte er im Geist hinzu, als die Frau sich mit nackten Brüsten aufrichtete, um ihren Mann damit zu beauftragen, das Kind zu wickeln.
Auf jeden Fall tanzte sie augenblicklich mit Karim. Sie bildeten ein seltsames Paar, er fünfzehn Zentimeter kleiner als sie, füllig und pfiffig, neben dieser großen germanischen Knolle. Er lächelte und redete ununterbrochen beim Tanzen,
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