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Elementarteilchen

Elementarteilchen

Titel: Elementarteilchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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selbst auf die Gefahr hin, sein ursprüngliches Verführungsvorhaben aus den Augen zu verlieren; immerhin schien die Sache voranzugehen: Sie lächelte auch, blickte ihn mit geradezu faszinierter Neugier an, und einmal brach sie sogar in lautes Lachen aus. Am anderen Ende der Rasenfläche erklärte ihr Mann einem neuen potentiellen Anhänger die Hintergründe der Bewegung, die 1530 in Niedersachsen entstanden war. In regelmäßigen Abständen brüllte sein dreijähriger Sohn, ein unerträglicher blonder Bengel, weil er ins Bett wollte. Kurz gesagt, auch da nahm man an einem authentischen Moment des realen Lebens te il. Neben Bruno gaben zwei schmächtige Kerle, die aussahen wie Geistliche, ihre Kommentare über die Leistung des Verführungskünstlers ab. »Er hat eben eine verdammt herzliche Art, verstehst du ...«, sagte der eine. »An sich kommt er nicht an sie ran, dafür sieht er nicht gut genug aus, und dann hat er einen Bauch und ist kleiner als sie. Aber er hat eine verdammt herzliche Art, der alte Sack, und damit macht er das übrige wett.« Der andere stimmte mit trübseliger Miene zu und bewegte die Finger, als bete er einen imaginären Rosenkranz. Als Bruno seinen Wodka-Orange getrunken hatte, stellte er fest, daß Karim es geschafft hatte, die Rosenkreuzerin zu einem grasbewachsenen Hang mitzunehmen. Er hatte ihr eine Hand um den Hals gelegt und schob ihr, ohne mit dem Reden aufzuhören, sanft die andere unter den Rock. »Und die Beine spreizt sie doch, die alte Nazischlampe ...«, dachte er, während er sich von den Tanzenden entfernte. Kurz bevor er den hellen Lichtkreis verließ, sah er flüchtig, wie sich die Katholikin von einem Typen, der wie ein Skilehrer aussah, den Hintern befummeln ließ. Er hatte noch eine Dose Ravioli im Zelt.
        Bevor er zu Bett ging, fragte er noch aus einem Reflex reiner Verzweiflung seinen Anrufbeantworter ab. Er hatte eine Nachricht. »Du bist wahrscheinlich im Urlaub ...«, hörte er Michels ruhige Stimme. »Ruf mich an, wenn du wieder zurück bist. Ich habe auch Urlaub, und zwar für lange Zeit.«

    4

        Er geht, erreicht die Grenze. Ein Schwarm Raubvögel kreist um einen unsichtbaren Mittelpunkt - vermutlich einen verwesenden Kadaver. Die Muskeln seiner Schenkel reagieren elastisch auf die Unebenheiten des Wegs. Eine gelbliche Steppe bedeckt die Hügel; nach Osten reicht der Blick bis ins Unendliche. Er hat seit dem Vortag nichts gegessen; er hat keine Angst mehr.
        Er wacht voll angekleidet auf, liegt quer über dem Bett. Vor dem Lieferanteneingang des Monoprix werden Waren aus einem Lastwagen entladen. Es ist kurz nach sieben.

        Seit Jahren führte Michel ein rein geistiges Dasein. Die Gefühle, die das Leben der Menschen bestimmen, waren nicht Gegenstand seiner Betrachtung; er kannte sie kaum. Das Leben in der heutigen Zeit konnte mit vollkommener Präzision geregelt werden; die Kassiererinnen des Supermarkts erwiderten seinen kurzen Gruß. Es hatte in den letzten zehn Jahren, seit er dort wohnte, in dem Wohnblock viel Hin und Her gegeben. Manchmal bildete sich ein Paar. Dann beobachtete er den Einzug; im Treppenhaus transportierten Freunde Kisten und Lampen. Sie waren jung und lachten manchmal. Oft (aber nicht immer) zogen die beiden Partner bei der Trennung, die darauf folgte, zur gleichen Zeit wieder aus. Dann stand eine Wohnung leer. Was sollte man daraus schließen? Wie ließen sich all diese Verhaltensweisen deuten? Es war schwer zu sagen.
        Er selbst hatte nur den Wunsch zu lieben, zumindest verlangte er sonst nichts. Nichts Genaues. Das Leben, dachte Michel, müßte eigentlich etwas Einfaches sein; etwas, das man wie eine Aneinanderreihung endlos wiederholter kleiner Rituale erleben kann. Rituale, die eventuell etwas albern sein durften, aber an die man trotzdem glauben konnte. Ein Leben ohne große Erwartungen und ohne Dramen. Aber das Leben der Menschen war nicht so angelegt. Manchmal ging er nach draußen und beobachtete die Jugendlichen und die Wohnblocks. Eines war sicher: Niemand wußte mehr, wie man leben sollte. Doch vielleicht übertrieb er etwas: Manche schienen sich einer Sache verschrieben zu haben, waren ganz von ihr erfüllt, offensichtlich erhielt ihr Leben dadurch einen Sinn. So setzten sich etwa die militanten Mitglieder von Act Up dafür ein, daß gewisse Werbespots im Fernsehen gesendet wurden, die manche als Pornographie bezeichneten, weil sie verschiedene homosexuelle Praktiken in Großaufnahme zeigten.

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