Elementarteilchen
befriedigen konnte. In einer Welt, die nur die Jugend achtet, sind die Menschen nach und nach innerlich ausge zehrt. Für das Mittagessen guckte er sich als Tischnachbarin eine Katholikin aus. Das war nicht schwer zu erraten, sie trug ein großes Eisenkreuz um den Hals; außerdem hatte sie diese auf der Unterseite geschwollenen Augenlider, die dem Blick eine gewisse Tiefe verleihen und oft eine Katholikin oder gar eine Mystikerin (und manchmal allerdings auch eine Alkoholikerin) kennzeichnen. Langes schwarzes Haar, sehr weiße Haut, ein bißchen mager, aber nicht schlecht. Ihr gegenüber saß eine junge Frau mit rotblondem Haar vom Typ Schweiz-Kalifornierin: mindestens einen Meter achtzig, perfekte Figur, machte den Eindruck, unerträglich gesund zu sein. Sie leitete den Tantra-Kurs. In Wirklichkeit war sie in Créteil geboren und hieß Brigitte Martin. In Kalifornien hatte sie sich die Brüste vergrößern und in die orientalische Mystik einweihen lassen; außerdem hatte sie den Vornamen gewechselt. Seit ihrer Rückkehr nach Créteil leitete sie unter dem Namen Shanti Martin einen Tantra-Kurs in Les Flanades; die Katholikin schien sie unheimlich zu bewundern. Anfangs konnte Bruno an der Unterhaltung teilnehmen, es ging um natürliche Ernährung - er hatte sich eingehend über Weizenkeime informiert. Doch sehr bald kamen sie auf religiöse Themen zu sprechen, und da konnte er nicht mithalten. Konnte man Jesus mit Krishna gleichsetzen oder mit wem sonst? Sollte man Rintintin Rusty vorziehen? Obwohl sie katholisch war, mochte die Katholikin den Papst nicht; mit seiner mittelalterlichen Einstellung bremse Johannes Paul II. die geistige Entwicklung des Abendlands, das war ihre These. »Das stimmt«, warf Bruno ein, »er ist ein Kretin.« Der wenig bekannte Ausdruck erhöhte das Interesse der beiden anderen an ihm. »Und der DalaiLama kann mit den Ohren wackeln ...«, sagte er traurig und aß sein Sojasteak auf.
Die Katholikin erhob sich energisch, ohne einen Kaffee zu trinken. Sie wollte nicht zu spät zu ihrem Workshop für Persönlichkeitsentwicklung kommen, der den Titel Die Regeln des Ja-Ja trug. »0 ja, das Ja-Ja ist toll!« äußerte die Schweizerin begeistert und stand ebenfalls auf »Vielen Dank für das Gespräch ...«, sagte die Katholikin und wandte ihm den Kopf mit einem hübschen Lächeln zu. Na also, dann hatte er sich ja gar nicht so schlecht aus der Affäre gezogen. »Mit diesen Zicken zu sprechen«, dachte Bruno, als er über den Campingplatz ging, »Ist genauso, als ob man in ein Pißbecken voller Kippen pißt; oder in ein Klo voller Monatsbinden scheißt: Die Sachen gehen einfach nicht unter und fangen an zu stinken.« Der Raum trennt die Häute. Das Wort durchquert elastisch den Raum, den Raum zwischen den Häuten. Wenn sie nicht wahrgenommen werden, kein Echo finden und sozusagen dumm in der Luft schweben, fingen die Worte an zu verfaulen und zu stinken, das ließ sich nicht bestreiten. Aber selbst wenn sie eine Verbindung eingehen, können Worte trennen.
Er ließ sich neben dem Schwimmbecken in einem Liegestuhl nieder. Die jungen Mädchen alberten herum, um sich von den Jungen ins Wasserwerfen zu lassen. Die Sonne stand im Zenit; glänzende nackte Körper begegneten sich rings um die blaue Oberfläche. Ohne darauf acht zu geben, vertiefte sich Bruno in Die sechs Gefährten und der Mann mit dem Handschuh, vermutlich Paul-Jacques Bonzons Meisterwerk und vor kurzem in der Bibliothèque verte, der Bücherreihe für Jungen, neu aufgelegt. In dieser fast unerträglichen Hitze war es angenehm, sich in der beruhigenden Begleitung des braven Hundes Kapi in den Nebel von Lyon versetzen zu lassen.
Das Nachmittagsprogramm ließ ihm die Wahl zwischen Sensitivity-Gestaltmassage, Befreiung der Stimme und Rebirthing in warmem Wasser. Auf den ersten Blick schien die Massage die heißeste Sache zu sein. Er bekam einen kleinen Einblick in die Befreiung der Stimme, als er zum Massagekurs ging: Unter Anleitung der Tantra-Tante sprang ein knappes Dutzend völlig aufgeregter Leute, schnatternd wie verschreckte Truthähne, wild in der Gegend herum .
Auf der Kuppe des Hügels bildeten die Tische, auf Böcken ruhende Platten, die mit Badetüchern bedeckt waren, einen großen Kreis. Die Teilnehmer waren nackt. In der Mitte des Kreises gab der Kursleiter, ein kleiner dunkelhaariger Mann, der leicht schielte, einen kurzen chronologischen Überblick über die Geschichte der
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