Elena – Ein Leben fuer Pferde
Schlepptau aus einem der Stallzelte. Er sah seinen Sohn, der von meinen Eltern umarmt wurde, und seine Miene erstarrte zu Eis.
»Tim!«, brüllte er. »Komm sofort hierher!«
Tim zuckte zusammen. Er nickte meinen Eltern knapp zu und wandte sich zum Gehen. Sein verletztes Knie schien zu schmerzen, denn er humpelte, als er zu seinem Vater ging.
Andere Leute hatten Richard Jungblut wohl bereits erzählt, was Tim getan hatte, aber er schien nicht besonders stolz deswegen zu sein. Seinem grimmigen Gesichtsausdruck war anzusehen, dass er Tim wahrscheinlich am liebsten verprügelt hätte, nur die Anwesenheit der vielen Leute hielt ihn davon ab.
Im Großen Preis schied Richard Jungblut mit dem Pferd, mit dem er noch am Freitag gewonnen hatte, am offenen Wassergraben aus. Liam verpasste knapp das Stechen, das Papa mit Calvador in einem wahren Husarenritt für sich entschied und damit zum dritten Mal in seiner Karriere den Hessenmeistertitel der Senioren auf den Amselhof holte. Bei der anschließenden Meisterehrung standen Christian und Tim nebeneinander auf dem Treppchen. Es war üblich, dass sich die Sieger gegenseitig gratulierten, und jeder, der über die Feindschaft zwischen uns und den Jungbluts Bescheid wusste, erwartete einen knappen Händedruck. Umso überraschter waren alle, als Christian Tim nun nicht nur die Hand gab, sondern auch noch umarmte. Die Fotoapparate der Presseleute klickten und mir wurde ganz schwindelig vor Glück. Die Nachricht von Tims Aktion hatte sich bis zum Turniersprecher herumgesprochen, denn er lobte seinen mutigen und geistesgegenwärtigen Einsatz in höchsten Tönen.
Tim blickte zu mir herüber, wir lächelten uns einen Moment lang an. Ich wischte mir verstohlen eine Träne der Rührung von der Wange. Als ich den Kopf hob, begegnete ich Mamas forschendem Blick und schaute schnell wieder woandershin.
Christian war auf der ganzen Heimfahrt stumm wie ein Fisch. Zu Hause sagte er auch beim Abladen der Pferde keinen Ton und verschwand sofort danach im Haus.
Später trafen wir uns alle in der Gaststätte. Oma hatte ein riesiges Büfett vorbereitet, Opa ließ die Sektkorken knallen. Zwei Hessenmeister in einer Familie, das war schon ein Grund zum Feiern! Lajos saß mit am Tisch, daneben ein paar Freunde von Papa und Mama, die ganze Familie Adelmann, Kiki, Fabian und ihre Eltern.
Melike war direkt vom Flughafen auf den Amselhof gehetzt und traute ihren Ohren nicht, als ich ihr die Geschichte von Tims Einsatz erzählte.
Christian hatte den ersten Schock überwunden. Er saß neben Ilona, einen Arm um ihre Schulter gelegt und sagte zu meiner Verwunderung: »Ich glaub, ich rufe Tim morgen mal an und frage, wie es seinem Knie geht.«
Mir blieb fast die Luft weg. Melike stieß mich unter dem Tisch an. Plötzlich hielt ich es nicht länger in der fröhlichen Runde aus. Unter einem Vorwand ging ich hinaus, schlenderte hinüber zum Springplatz und setzte mich auf die Bank an der Remise, in der im Winter die Hindernisse lagerten. Twix, der das ganze Wochenende bei Opa und Oma verbracht hatte, schwänzelte um mich herum und sprang neben mich auf die Bank.
Hey, du Held , schrieb ich Tim. Wie geht es dir? C hat eben gesagt, er will dich morgen anrufen. Ich bin sooooo glücklich! Vielleicht wird doch noch alles gut!
Die Dämmerung war angebrochen. Auf der Wiese zwischen Reitplatz und Wald ästen zwei Rehe. Es duftete nach frisch gemähtem Gras und nach den Rosen, die sich in herrlicher Fülle an der Wand der Remise hochrankten. Das erste Mal seit unendlich langer Zeit fühlte ich mich nicht traurig und einsam. Seit heute keimte in einer Ecke meines Herzens ein winziger Hoffnungsschimmer für Tim und mich. Ich umfasste das Medaillon, das ich das ganze Wochenende um den Hals getragen hatte. Mein Handy piepste.
Mir geht’s gut, mach dir keine Sorgen, antwortete Tim. Ich bin gespannt. Das wäre wirklich super. Hab dich ganz, ganz doll lieb, Goldstück!
Ich lächelte versonnen. Goldstück!
Twix spitzte plötzlich die Ohren und sprang von der Bank. Ich blickte auf und sah Mama.
»Na, meine kleine Große«, sagte sie. »Was tust du so allein hier draußen?«
»Ich musste mal über alles in Ruhe nachdenken«, erwiderte ich.
»Darf ich mich zu dir setzen?«
»Klar.« Ich rutschte ein Stück zur Seite und Mama setzte sich neben mich auf die Bank. Eine Weile betrachteten wir schweigend die Rehe auf der anderen Seite des großen Springplatzes. Zu den beiden ersten hatten sich noch zwei weitere
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