Elenium-Triologie
Ganges. Sperber verspürte eine eigenartige Leere, je höher sie kamen. Als sie hinabstiegen, waren sie zu viert gewesen, jetzt waren sie nur noch drei. Sie hatten die Kindgöttin jedoch nicht zurückgelassen, sie alle trugen sie in ihrem Herzen. Etwas anderes beunruhigte ihn.
»Können wir diese Höhle für immer verschließen, wenn wir draußen sind?« fragte er seine Lehrerin.
Sephrenia blickte ihn nachdenklich an. »Es ist möglich, wenn Ihr es möchtet, aber warum wollt Ihr es?«
»Ich bin mir nicht sicher, aber…« Er runzelte die Stirn und versuchte, sich selbst darüber klarzuwerden. »Wenn irgendein thalesischer Bauer in diese Höhle stolpert, wird er auf Ghwerigs Hort stoßen, nicht wahr?«
»Falls er lange genug herumirrt, ja.«
»Und danach wird es nicht mehr lange dauern, bis die Höhle voll von Thalesiern ist.«
»Warum beunruhigt es Euch so? Was macht es schon aus, wenn Thalesier sich hier umsehen?«
»Es ist ein ganz besonderer Ort, Sephrenia.«
»Auf welche Weise?«
»Er ist heilig«, antwortete Sperber ein wenig gereizt über ihre Hartnäckigkeit. »Eine Göttin hat sich uns hier offenbart! Ich möchte nicht, daß die Höhle durch eine Meute trunkener, habgieriger Schatzsucher entweiht wird. Es wäre für mich nicht anders, als würde eine elenische Kirche entweiht.«
»Lieber Sperber«, rief Sephrenia und umarmte ihn impulsiv. »Ist es Euch so schwergefallen, einzugestehen, daß Aphrael eine Göttin ist?«
»Eure Göttin war sehr überzeugend, Sephrenia«, erwiderte er. »Sie hätte sogar die Überzeugungen der elenischen Hierokratie ins Wanken gebracht. Können wir es tun? Die Höhle unzugänglich machen, meine ich?«
Sie öffnete den Mund, um zu antworten, dann aber hielt sie stirnrunzelnd inne. »Wartet hier«, bat sie. Sie lehnte Ritter Gareds Schwertspitze an die Wand des Spiralenganges und ging ein Stück zurück. Am Rand des Lichtscheins, der von der glühenden Schwertspitze ausging, blieb sie nachdenklich stehen. Nach kurzer Zeit kehrte sie zurück.
»Ich werde Euch ersuchen, etwas Gefährliches zu tun, Sperber«, sagte sie ernst. »Aber ich glaube, daß Euch nichts Schlimmes geschehen kann. Die Erinnerung an Aphrael ist noch stark in Euch, und das müßte Euch schützen.«
»Was soll ich tun?«
»Wir werden den Bhelliom benutzen, um die Höhle zu verschließen. Es gäbe auch andere Möglichkeiten, aber wir müssen uns vergewissern, daß der Stein Eure Autorität anerkennt. Ich glaube , daß es der Fall sein wird, aber wir sollten uns davon überzeugen. Ihr solltet Euch wappnen, Sperber, denn der Bhelliom wird sich zu wehren wissen.«
»Es wäre nicht das erste Mal, daß ich gegen Sturheit anzukämpfen hätte.«
»Nehmt es nicht auf die leichte Schulter, Sperber. Er besitzt eine viel größere Macht als alles, was ich je beherrscht habe. Aber gehen wir weiter.«
Je höher sie kamen, desto schwächer war das Tosen des Wasserfalls aus Ghwerigs Schatzhöhle zu vernehmen. In dem Augenblick, als sie am Rand der Hörweite angelangten, schien der Laut sich zu ändern, schien der eine, endlose Ton zu zersplittern und zu einem komplexen Akkord zu werden – was vielleicht am wechselnden Widerhall in der Höhle lag. Mit der Veränderung dieses Tons änderte sich auch Sperbers Stimmung. Zuvor hatte ihn Befriedigung erfüllt, weil sie ihr lange erstrebtes Ziel erreicht hatten, vermischt mit einer wundersamen Ehrfurcht über die Offenbarung der Kindgöttin. Jetzt aber erschien ihm die dunkle, modrige Höhle unheimlich, bedrohlich. Sperber empfand etwas, das er seit seiner frühen Kindheit nicht mehr verspürt hatte: Angst vor der Dunkelheit. In den Schatten außerhalb des Lichtkreises, den die glühende Schwertspitze warf, schien Furchterregendes zu lauern, gesichtlose Wesen voll grausamer Bösartigkeit. Er blickte gehetzt über die Schulter. Ihm war, als bewege sich etwas weit hinter ihnen, außerhalb des Lichtscheins, eine flüchtige Bewegung nur. Als er versuchte, direkt darauf zu blicken, konnte er dieses Etwas nicht mehr sehen, doch kaum wandte er den Kopf seitwärts, war es da – vage, formlos, unmittelbar am Rand seines Blickfelds. Es erfüllte ihn mit instinktivem Grauen.
Es war bereits Nachmittag, als sie in den Sonnenschein traten, der ihnen nach der Dunkelheit in der Höhle schmerzhaft grell vorkam. Sperber holte tief Atem und griff in seinen Kittel.
»Noch nicht, Sperber«, mahnte Sephrenia. »Wir wollen doch nicht unter herabstürzenden Felsen begraben werden. Steigen
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