Elf Leben
Bar kennengelernt, auf einer Party zum Abschluss der Dreharbeiten einer Kurzserie über Leute, die besessen sind von Stars. Edith moderierte. Alessandro, eins neunzig groß und mit olivfarbenem Teint, war zurechtgemacht wie Clark Gable, mit falschem Oberlippenbart, einer Fliege und einer glänzenden Gelfrisur. Er war über zehn Jahre jünger als Edith, und als sie ihn sah, fragte sie sich sofort, wie es wäre, mit ihm zu vögeln, auch wenn er in dem Moment zugegebenermaßen ziemlich albern aussah. Später, als sie auf dem Weg von den Toiletten am Personalraum vorbeikam, wo er gerade Feierabend machte, sah sie, wie er sein Hemd auszog und eine glatte, muskelbepackte Brust zum Vorschein kam, und fragte sich erst recht, wie es wohl wäre. Sehr gut, lautete die Antwort, außergewöhnlich gut sogar, an dem Abend und an einigen anderen, und ja, vielleicht hat sie ihm mal gesagt, dass sie ihn liebt.
Und deshalb, auch wenn sie es bisher vor sich hergeschoben hat, schuldet sie ihm wenigstens einen Abschied. Im Souterrain der 1,2-Millionen-Villa – deren Wert, wie die Nachbarn verbiestert tuscheln, jetzt sicher etwas gesunken ist, seit es in der Gegend von Fotografen wimmelt – wählt sie die gesperrte Nummer, hält die Luft an und hofft auf die Mailbox. Vielleicht hätte sie bis zum Abend warten sollen, wenn er arbeitet.
Denn so antwortet er beim zweiten Klingeln.
»Edith, endlich. Gott sei Dank, Mann.«
Sein Englisch ist gut, aber stark beeinflusst von amerikanischen Kinofilmen, wodurch er – besonders wegen seines Akzents – oft klingt wie ein Schauspieler im Fernsehen.
»Alessandro, hör mal, ich …«
Aber es ist noch schwerer zu erklären, als sie erwartet hat; die Stille am anderen Ende ist noch frostiger. Seelisch und moralisch auf einen Streit vorbereitet – darin hat sie mittlerweile einige Übung –, muss sie ihre Rechtfertigungen nun stattdessen gegen eine Wand aus Eis vorbringen. Ich muss an meine Familie denken. Ich hätte dir nicht sagen sollen, dass ich dich liebe. Ich hätte dir keine falschen Hoffnungen machen sollen. Es war ein wunderbares Abenteuer. Ich glaube, man muss die Dinge im Leben manchmal einfach geschehen lassen. Zwei lange Minuten redet sie, ohne unterbrochen zu werden.
»Deshalb … deshalb sage ich Lebwohl.«
»Das ist doch Schwachsinn.« Alessandros Stimme klingt zornig, aber es ist ein stiller, besonnener Zorn, schlimmer – findet Edith – als Hysterie.
»Ich weiß, ich habe mich in dieser Situation wirklich blöd verhalten.«
»Ja. Du hast dich blöd verhalten.«
Pause.
»Es tut mir leid.«
»Edith, ich brauche dich.«
Darauf war sie nicht vorbereitet. Der Kerl ist zweiundzwanzig, Herrgott noch mal; sie haben sich in einer Bar kennengelernt und hatten ab und zu mal Sex.
»Du kannst mich nicht haben.«
Ein gedämpftes Schluchzen kriecht durch das Telefon.
»Alessandro …«
»Bitte, Edith, wenn du es dir anders überlegst –«
Nein, sie werde es sich nicht anders überlegen. Sie legt auf und schwört sich, das Telefon in der nächsten Stunde zu ignorieren.
Als Edith sich auf den Weg zur Sendung macht, ist sie etwas durch den Wind; sie vergisst, die Haustür abzuschließen, und als sie deshalb noch einmal zurückkommt, merkt sie, dass sie die Hälfte ihrer Trainingssachen in einer Tüte neben der Waschmaschine vergessen hat. Sie setzt sich auf die Rückbank des Wagens – der Fahrer ist professionell schweigsam wie immer – und denkt an Alessandro. Sie kannte die Risiken des Fremdgehens, wusste von der Schande und der Schmach, die sie jetzt einholten, aber sie hätte nie gedacht, dass sich jemand in sie verliebt . Und dann auch noch ein großer, kräftiger Italiener, der aussieht wie die perfekte Karikatur eines Typen, der mit einem schläft und noch vor dem Morgengrauen abhaut, sich jetzt aber trotzdem den ganzen Nachmittag lang die Augen ausweint. Ein paar Augenblicke tut er ihr leid, dann zieht sie einen Spiegel heraus, trägt Lippenstift auf und holt ihre Aufzeichnungen für die heutige Sendung aus der Tasche. Es ist ein Jammer, aber sie kann nicht die Verantwortung für jedermanns Gefühle übernehmen. Eigentlich kann man gar keine Verantwortung für die Gefühle von irgendjemandem übernehmen, denkt Edith mit einem zufriedenen Blick in den Spiegel. Man kann keine Verantwortung für das übernehmen, was anderen Leuten zustößt. Man muss sein Leben einfach leben.
X Während sich das nächtliche London schlafend, essend, hin und her gehend,
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