Elf Leben
schwitzend, scheißend, kämpfend und atmend auf einen weiteren Wochentagsmorgen zubewegt, geht das Domino der Ereignisse erbarmungslos weiter.
Um zwei Uhr morgens kommt der italienische Barmann Alessandro Romano nach der Arbeit zurück in seine gemietete Studiowohnung in Tottenham und hat ein gebrochenes Herz, weil seine Geliebte Edith Thorne ihn sitzen ließ, weil sie ihre Ehe retten musste, weil die Journalistin Stacey Collins ihre Affäre enthüllte, weil ihre Freundin Maggie den Glauben an ihren Beruf verlor und beschloss, in aller Öffentlichkeit schmutzige Wäsche zu waschen, weil ein Immobilienmakler namens Roger in ihrer Sitzung gereizt reagierte, weil er zuvor versehentlich eine gemeine SMS von seinem Mitarbeiter Ollie erhielt, der ein ungewohntes Handy benutzte, weil sein BlackBerry von einem dicken Jugendlichen namens Julius gestohlen wurde, der Geld für die Mitgliedschaft im Fitnessstudio brauchte, weil er von dem egoistischen Restaurantbesitzer Andrew Ryan gefeuert wurde, in einer Überreaktion auf eine harsche Zeitungskritik, verfasst von Jacqueline Carstairs, die schlechte Laune hatte, weil ihr Sohn Frankie verprügelt wurde, weil Xavier seine Peiniger nicht davon abhielt. Alessandro, das elfte Glied der Kette, die bis zu jenem kalten Tag zurückreicht, sieht sich mit einem Gefühl zwischen Abscheu und Verzweiflung in seiner winzigen Wohnung um.
Xavier hat den Vorfall mittlerweile erneut vergessen. Und zwei Uhr morgens liegt er mit Pippa in dem Bett, in dem sie seit jenem ersten unbeholfenen, herrlichen Sex im Haus einer der führenden Unternehmerinnen Großbritanniens einen großen Teil ihrer Zeit verbracht haben.
Ein guter Teil dieser Zeit wurde mit noch mehr Sex gefüllt. Xavier liebt es, mit Pippa zu schlafen. Er liebt ihre überlegene, fast einschüchternde körperliche Kraft, und er liebt, wie sie sich manchmal, bevor sie anfangen, splitternackt vor das Bett stellt und ihn mit einem scharfen Blick herausfordert. Er ist hingerissen davon, dass sie im Bett die begierigste und natürlichste Frau ist, die er je kannte, und trotzdem kommt ihr immer wieder ihr eigentümliches Verständnis von Anstand in die Quere, ihr leicht altmodisches Prinzip, den gesunden Menschenverstand walten zu lassen und kein großes Aufheben zu machen; ihre Wangen nehmen ein köstliches Rot an, sie wirkt leicht entsetzt, sich selbst aufschreien zu hören, und verbietet danach jedes Wort über das Geschehene. Es gibt keinerlei Auswertung, die Sache wird zusammen mit den anderen erledigten Aufgaben des Tages rasch ad acta gelegt. Tatsächlich, denkt Xavier, ist Sex eins der wenigen Themen, über die sie nicht redet wie ein Wasserfall, auch wenn ihm allein dieser Gedanke ein schlechtes Gewissen bereitet, vom Aussprechen ganz zu schweigen. Sie schlafen oft am Nachmittag miteinander, zwischen ihren Putzterminen, vor seinem Abend mit Murray und den Hörern und bevor sie an die Seite ihrer unterstützungsbedürftigen, mittlerweile hochschwangeren Schwester zurückkehrt.
Aber noch mehr als zum Sex hat Pippa das Bett zum Schlafen benutzt. Seit sie ihre knappe Freizeit in seiner Wohnung verbringt, ist Xavier erst richtig bewusst geworden, wie müde sie ist, wie viel Schlaf sie nachzuholen hat. Es sind Schulden, die über die letzten fünf Jahre hinweg aufgelaufen sind und deren Zinsen sich jetzt schneller anhäufen, als sie abbezahlt werden können. Selbst wenn Pippa mal eine ordentliche Mütze Schlaf bekommt, scheint es ihren Körper nur wieder daran zu erinnern, was ihm eigentlich zustünde, und er schraubt seine Ansprüche entsprechend hoch. Xavier kann Pippa inzwischen immer öfter dazu überreden, sich zwischen den Terminen richtige Pausen zu gönnen, kurz zu schlafen oder sich hinzulegen, sich von ihm Tee und Toast machen zu lassen und sogar kleine Schmutzecken und Unvollkommenheiten zu übersehen.
»Ich bin doch keine Invalide.«
»Aber wenn du so weiter machst, dauert es nicht mehr lange, das ist es ja gerade.«
Wenn es um Pippas Zeit geht, hat Xavier zwei große Konkurrenten: ihre Neigung, sich zu viel Arbeit aufzuladen, und ihre Loyalität zu Wendy. Beide Themen kommen ihm so riskant vor wie ein Spaziergang auf Murmeln. Die Schwester lässt er erst einmal unangetastet, bis er mehr Beweise gesammelt hat, aber das Arbeitspensum hat er, wenn auch vorsichtig, vor ein paar Tagen schon einmal angesprochen, ein paar Häuser weiter in einem Café.
»Weißt du, lass mich doch … lass mich doch ein bisschen den Druck von
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