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Elf Leben

Elf Leben

Titel: Elf Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Watson
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Job.«
    »Und was hat Sie dazu gebracht, Ihre Meinung zu ändern?«
    »Das ist eine lange Geschichte.« Xavier reibt sich die Nase. »Sie hat mit einer Putzfrau zu tun.«
    An dieser Stelle könnte die Geschichte enden, aber sie geht noch weiter; so saubere Schnitte macht das Leben nicht. Die Tausenden winziger Folgen von Xaviers Nichteingreifen, als Frankie Carstairs vor etwa acht Wochen verprügelt wurde, bringen beständig Tausende neue hervor, die ihrerseits Tausende neue hervorbringen, die ungebremst durch London geistern. Dennoch, für den Moment hat Clive Donald das Gefühl, der Welt anders gegenüberzustehen als zuvor. Ein praktisch Fremder, den er nur als Stimme aus dem Radio kannte, ist ihm persönlich zu Hilfe gekommen. Ohne es direkt zu begreifen, wird ihm klar, dass jeder mit jedem in Verbindung steht und deshalb jede Unterrichtsstunde, die er gibt – all die blöden Kurven, die müden Ermahnungen an den dicken Jugendlichen, der in der letzten Reihe Chips isst – ihre Folgen hat. Alles hat die Chance, von Bedeutung zu sein.
    »Wie kommen Sie denn jetzt …?«, beginnt Clive zu fragen, als sie wieder nach drin gehen und den Tau auf der Fußmatte abtreten. Es ist kurz vor neun und längst zu spät, um zur Schule zu fahren, selbst wenn er in letzter Minute noch Gewissensbisse bekäme. Diese Unumkehrbarkeit ist tröstlich. Der Schulhof wird bereits voll sein von Uniformblazern, Krawatten und Geschnatter, deftigen Flüchen, Homosexualitätsbezichtigungen und Fußballspielen, die in Ringkämpfe übergehen. Julius Brown, der seinen Erfolg insgeheim Clive Donald zuschreibt, wird aufrechter als sonst durch das Tor gehen, mit seiner Tasche über der Schulter und einem gravierten Mathematikpokal zu Hause auf dem Schreibtisch.
    Xavier ruft sich ein Taxi. Die beiden Männer, die einander nie mehr wiedersehen werden, schütteln sich im Flur die Hand.
    »Melden Sie sich. Schreiben Sie eine Mail oder rufen Sie an. Sie brauchen nicht in der Sendung anzurufen. Melden Sie sich einfach.«
    »Mach ich.«
    Clive winkt, als Xavier die Wagentür öffnet und dann hinter sich zuzieht.
    Der Hund drei Häuser weiter bellt noch einmal, als wollte er den Kreis von Xaviers Besuch bewusst schließen. Auch der Taxifahrer ist derselbe, der Xavier hierher gebracht hat. Xavier nennt ihm seine Postleitzahl. Der Wagen gleitet in den Kurz-nach-Rushhour-Verkehr, der langsam vom Verdauungstrakt der Stadt absorbiert wird. Der Dunstschleier ist jetzt verschwunden, und das Tageslicht wirkt in Xaviers Augen unnatürlich hell, fast schon vulgär, wie das Licht, das einen begrüßt, wenn man am Nachmittag aus dem Kino kommt.
    Wie so oft nach einer schlaflosen Nacht ist Xavier nicht erschöpft, sondern voll von einer verwirrend unfokussierten Energie. Wieder zu Hause, blickt er mit einem eigenartigen Gefühl auf die vergangenen Stunden zurück: einer Mischung aus Ungläubigkeit – bin ich wirklich zu einem Wildfremden nach Hause gefahren und habe mir seine Sorgen angehört? – und dem fast euphorischen Gefühl, etwas durch und durch Gutes getan zu haben. Es fällt ihm schwer, sich irgendeiner anderen Aufgabe zu widmen, selbst einer so simplen wie zu überlegen, was er Murray heute Abend als Erklärung liefern soll. Er geht zum Eckladen und schwatzt schließlich zwanzig Minuten mit dem Inder, hört sich interessiert alles über die bevorstehende Hochzeit und den gewaltigen Reichtum der Eltern des Bräutigams an, die ein Haus in Surrey mit »drei Autos und ein groß Garage« haben. Obwohl er heute Nacht wieder bis vier Uhr arbeiten wird, will Xavier nicht schlafen gehen; er möchte die Ereignisse von letzter Nacht mit jemandem teilen – nicht nur die Geschichte, sondern auch das Gefühl, das sie hinterlassen hat. Eigentlich, merkt er, will ich mit Pippa zusammen sein.
    »Dieser Typ hat also Depressionen, und du bist zu ihm hin?«
    »Na ja, also, ganz so einfach war es nicht …«
    »Ich versteh dich ganz schlecht, Schätzchen. Ich sitz gerade im Bus.«
    Immer wenn Xavier Pippa anruft, ist sie natürlich gerade auf dem Weg zur Arbeit, oder besser gesagt, sie kommt von der Arbeit und hetzt irgendwo anders hin. Die reiche Kundin in Marylebone ist mit ihrem Lebensgefährten und ihrem Sohn im Skiurlaub, und Pippa soll in ihrer Abwesenheit wie üblich drei Stunden das Haus putzen.
    »Was, obwohl sie gar nicht da sind? Was sollst du denn da machen? Selber alles dreckig machen, damit du es dann putzen kannst?«
    »Sie kann es sich leisten, also warum

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