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Elf Leben

Elf Leben

Titel: Elf Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Watson
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frische Blumen auf sein Grab gelegt.
    »Das waren ›Murrays Nachtgedanken‹ für heute, und wenn ihr ein bisschen Spaß hattet, simst oder mailt uns und lasst es uns wissen. Und jetzt freuen wir uns auf die Nachrichten und das Wetter.«
    »Und nach der Pause«, sagt Xavier, »bitten wir euch, uns von einem Moment zu erzählen, der euch nicht mehr aus dem Kopf geht. Irgendetwas, das ihr gern geradebiegen würdet, wenn ihr die Zeit zurückdrehen könntet. Und vielleicht spielen wir ja auch den passenden Song.«
    Murray drückt auf einen Schalter, und die tonlose Kristallstimme der Nachrichtensprecherin ertönt.
    »Gute Arbeit«, sagt Xavier. »Das mit den Piraten war klasse.«
    »Hab ich mir bloß schnell a-a-a-auf dem Weg hierher einfallen lassen«, sagt Murray. »Kaffee?«
    Während Murray sich mit der Schulter voran durch die Tür drängt, denkt Xavier: Ich muss ihn wirklich von diesen Sketchen abbringen. Oder wenigstens davon überzeugen, dass er sie kürzt. Oder seltener macht. Einmal pro Woche würde reichen. Oder zweimal. Nicht jeden Abend.
    Murray schafft es immer wieder, seine Comedy-Einlagen gegen alle Streichungsvorschläge zu verteidigen. Er kommt mit Ideen, wie man sie »aufmotzen« könnte. Sie haben sie schon einmal weiter an den Anfang der Sendung gelegt, weil das Publikum da noch »frischer« ist, und dann wieder ans Ende, weil die Hörer dann eher »in Stimmung für eine kleine Auflockerung« sind. Wenn Roland, der Chefredakteur, von Zeit zu Zeit vorschlägt, sie ganz zu streichen, verdreht Murray jedes Mal die Augen und wirft ihm vor, er hätte »keine Ahnung, was ein bisschen Spaß bewirken kann«. Xavier behält seine Ansichten für sich. Murray gibt sich viel Mühe mit den Gags und kommt oft mit mehreren handgeschriebenen A4-Zetteln ins Studio, dicht bekritzelt mit witzigen Bemerkungen in seiner verkrüppelten Handschrift, die so bemüht wirkt wie seine Sprüche.
    Morgen Abend nimmt Xavier Murray mit zu einer Premiere am Leicester Square. Es ist ein Film mit Nicolas Cage, der an irgendjemandem Rache üben will, oder irgendjemand will an ihm Rache üben, Xavier hat die Details der Pressemitteilung nicht mehr genau im Kopf. Zuerst hatte er eine Einladung per Mail bekommen, der ein paar Tage später ein Hochglanzschreiben per Post folgte – ein Zeichen, dass die Produzenten mit wenig Presseaufmerksamkeit für den Film rechnen und jedem Zitat nachjagen, wie Partygastgeber, die das Netz immer weiter in den Pool ihrer losen Bekannten auswerfen.
    Murray stellt Xavier seinen Kaffee in der BIG - CHEESE -Tasse hin. Er checkt die ankommenden E-Mails und SMS . Nur sehr wenige Hörer schreiben, dass sie beim letzten Teil der Sendung »ein bisschen Spaß« hatten, und mindestens eine Handvoll Leute berichten das Gegenteil.
    Murray tut diese, wie immer, mit einem trotteligen Lächeln ab.
    »Manche gehen halt zum Lachen in den Keller.«
    Dort ist auch die Stimmung in der folgenden halben Stunde, denn die Anrufer packen aus, was sie »ungeschehen machen« würden. Ein Mann sagt, er hätte niemals seine Frau verlassen dürfen, die danach im Lotto gewann.
    »Aber wenn Sie nur wegen des Geldes mit ihr zusammengeblieben wären …«, versucht Xavier ihn zu trösten.
    »Nein, ich glaube, ich habe sie wirklich geliebt«, klagt der Anrufer.
    »Und warum haben Sie sie dann verlassen, wenn ich fragen darf?«
    »Weil ich ein Idiot bin«, antwortet der Anrufer nüchtern.
    Andere haben das Studium abgebrochen oder hätten es gar nicht erst anfangen sollen, lehnten eine tolle Stelle ab, wurden von einem schrecklichen Job dreißig Jahre lang fertiggemacht oder verpassten die letzte Gelegenheit, sich von einem geliebten Menschen zu verabschieden. Überall in London sprudelt das Bedauern hervor und fließt in dem Studio im Westen Londons zusammen. Es gibt aber auch leichtere Erinnerungen: Jemand in Belsize Park wünscht sich lediglich, er hätte seinen aktuellen Toaster nicht gekauft.
    »Na, wenn das schon das Schlimmste ist, auf das Sie zurückblicken können«, sagt Xavier.
    »Ich sage ja nicht, dass es das Schlimmste war. Nur das, was ich Ihnen erzähle.«
    »Okay, schön und gut, mein Schlimmstes erzähle ich euch vielleicht auch nicht. Aber hier kommt etwas von mir.«
    Murray findet immer, dass die erwartungsvolle Stille, wenn Xavier eine Geschichte beginnt, im Studio so deutlich spürbar ist, als würden die Hörer mit gespitzten Ohren im selben Raum sitzen.
    »Ich war ungefähr elf, und wir machten Urlaub am Meer. Ich

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