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Elf Leben

Elf Leben

Titel: Elf Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Watson
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hatte so eine Art Schlauchboot in Form eines großen Fischs, und mein Dad und ich paddelten damit herum. Auf einmal tauchte ein Junge auf, ungefähr so alt wie ich, und wollte zu uns hochklettern. Mein Dad versuchte, ihn zu verscheuchen. Und der Junge sagte immer wieder: Ist da noch Platz? Ist da noch Platz für mich? Und sah uns mit so einem absolut flehenden Gesichtsausdruck an. Anscheinend war er allein, ohne Vater oder Mutter oder so. Ich wusste nicht, was ich machen sollte, ich war wie erstarrt, aber mein Dad bellte ihn an, er soll sich verziehen, und wedelte die ganze Zeit mit den Händen: Hau ab. Irgendwann schwamm der Junge weg, er sah sehr verletzt aus oder einfach nur enttäuscht, als wäre es wirklich sein sehnlichster Wunsch gewesen, auf unseren Fisch zu klettern. Nachdem er weg war, sagte mein Dad, der Junge sei nicht ganz richtig im Kopf gewesen. Solchen Leuten ist nicht zu helfen, sagte er. Dabei war er kein schlechter Mensch, mein Dad, er konnte bloß … ihm fehlte oft der Draht zu anderen. Na jedenfalls, wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich wenigstens versuchen, ihn zu überreden, dass er den Jungen zu uns hochklettern lässt. Ich frage mich manchmal, was wohl aus ihm geworden ist.«
    »Vielleicht ist er ertrunken«, will Murray herausplappern, zur Auflockerung der angespannten Atmosphäre, aber es wäre ein schrecklicher Fehler.
    Xavier, schnell wie immer, rettet die Situation; er sieht den Satz kommen und blockt ihn durch einen eigenen ab, wie ein Torwart, der einen Schuss instinktiv mit seinem Körper entschärft.
    »Aber bevor wir hier in Trübseligkeit versinken … bereut jemand noch was Alberneres als die Toaster-Geschichte? Dafür danken wir Nigel, und gleich hören wir mehr – nach diesem Song, den ihr euch alle gewünscht habt.«
    »Ihr hört Late Lines «, sagt Murray überflüssigerweise, dankbar für seine Rettung. Aus den Lautsprechern fließen die lupenreinen Akkorde einer Soulballade. Murray tätschelt seinem Partner zum Dank die Hand. Xavier staunt über sich selbst, dass er diese Geschichte erzählt hat: Soweit er sich erinnert, hat er seit Jahren nicht mehr an die Episode gedacht. Als er noch einmal aus dem Fenster sieht, erscheint vor seinem inneren Auge deutlich wie ein Foto das gequälte, flehende Gesicht des Jungen und seine steifen, traurigen Schultern, als er sich umdrehte und davonschwamm.
    Am Premierenabend ist der Leicester Square grau und vernieselt; der rote Teppich hat Eselsohren und ist aufgeweicht an den Rändern, als eine Auswahl der besten gerade verfügbaren Stars darüberzockelt und pflichtgetreu für das Klick-klick-klick gelangweilter Fotografen lächelt, Arm in Arm mit wem auch immer. Ein Model ist da, der frisch gekürte Gewinner einer Talentshow im Fernsehen und der Moderator einer Quizsendung, aber bezeichnenderweise kaum jemand aus dem Film selbst. Der Regisseur ist da, mit seiner bedeutend jüngeren Freundin und einem Bauch, der sich aus einem zu knappen Smoking drängt wie jemand, der seinen nackten Hintern durch einen halboffenen Vorhang streckt.
    Während Xavier neben dem optimistisch ausgeschilderten VIP -Eingang auf Murray wartet, schweifen seine Gedanken unwillkürlich zurück zu einer anderen Premiere, vor Jahren im Zodiac. Es war ein lange erwarteter Avantgardefilm über ein Waisenkind, der in Melbourne spielte und in der Gegend gedreht worden war. Als treue Zodiac-Besucher hatten die vier Freunde Karten ergattern können. Der Regisseur, ein fröhlich aussehender Mann mit einem Onkelbart, saß ein paar Reihen vor ihnen. Das Zodiac war gebaut worden, bevor an die sterilen Annehmlichkeiten heutiger Kinopaläste auch nur zu denken war; die Reihen standen dicht an dicht, und die Intimität unter den Zuschauern gehörte zu den Dingen, die seine besondere Atmosphäre ausmachten.
    Kurz vor Beginn des Films tippte Matilda Chris ans Knie.
    »Guck mal da.« Sie zeigte auf den Regisseur vor ihnen.
    Wie es aussah, hatte er sich in einen auffallenden Angstzustand hineingesteigert. Ununterbrochen wischte er sich die verschwitzten Hände an der Hose ab, wippte mit den Beinen und blickte nervös von links nach rechts, als lauere irgendwo ein Feind. Einmal drehte er sich ganz um, um den Saal hinter sich zu sehen, und für einen Moment starrte er die Viererbande aus seinen großen, unruhigen Augen an, als flehe er um Hilfe.
    »Scheiße, der sieht ja furchtbar aus!«, flüsterte Matilda plump.
    Chris verdrehte die Augen und drückte ihren

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