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Elf Leben

Elf Leben

Titel: Elf Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Watson
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der gedämpfte Applaus verstummt war, ging der Filmvorführer hinunter, um nach den Vorbereitungen für die anschließende Party zu sehen, und Chris blieb mit dem Regisseur allein, der jetzt aufgehört hatte zu weinen und mit einer Mischung aus Trauer und Erleichterung hinab in den leeren Saal und auf die weiße Leinwand starrte, über die sein enttäuschendes Werk gelaufen war.
    »Im Grunde ist es doch okay«, sagte Chris. »Es ist bloß ein Film.«
    »Ja, sicher«, stimmte der Regisseur schniefend zu. »Und es wird nicht mein letzter sein.«
    Ein paar Minuten saßen sie schweigend da, Chris’ Arm um die Schulter des Mannes; dem Regisseur ging durch den Kopf, dass er sich schön blamiert hatte, und Chris ging durch den Kopf, dass Matilda sich sicher fragte, wo er steckte. Aber sie hatte es erraten, und als er mit dem verlegenen Filmemacher im Schlepptau aus der Vorführerkabine kam, trat auf ihr Gesicht jenes unverwechselbare Lächeln – irgendwie sentimental und wissend zugleich –, dessen Bedeutung er sehr gut kannte.
    Das folgende Wochenende war voll von freudigem, energischem Sex; als er am Samstagabend zu ihr kam, öffnete sie splitternackt die Tür, ein paar Sekunden gut sichtbar für jeden, der hätte vorbeikommen können, dann nahm sie seine Arme hinter dem Rücken zusammen und schob ihn wortlos ins Schlafzimmer.
    Die Erinnerung an Matildas Gesicht, jene wackelige Formation von Sommersprossen und deren Pendant aus winzigen Leberflecken, die sich über ihren Bauch bis hinab zu den Schenkeln zogen, erfüllt Xavier mit einer eigenartigen Mischung aus sexueller Spannung, Wehmut und irgendetwas hart an der Grenze zu Kummer. Hör auf damit, sagt er sich und hält auf dem Platz nach der plumpen Gestalt seines Freundes Ausschau. Reiß dich zusammen.
    Als Murray schließlich auftaucht, genau eine Minute vor dem offiziellen Beginn, ist er nicht nur verschwitzt und außer Atem, sondern trägt auch noch eine rote Krawatte. Es herrscht Frackzwang – selbst eine bescheidene Premiere muss einen gewissen Schein wahren –, und alle anderen tragen eine Fliege.
    Xavier macht eine hilflose Geste.
    »Was um Himmels Willen …?«
    »Ich hab keine F-fliege gefunden.«
    »Hättest du dir nicht eine leihen können?«
    »Ich wusste ja nicht, dass ich keine habe.«
    »Und da hast du stattdessen eine rote Krawatte angezogen, ja? Warum keine schwarze?«
    »Ich dachte mir, jede Krawatte ist besser als gar keine.«
    »Nein. Die ist schlimmer als gar keine. Eine rote Krawatte – sag mal, hast du sie noch alle?« Xavier schüttelt den Kopf, hin- und hergerissen zwischen Ärger und widerstrebender Zuneigung. »Hier, nimm meine Fliege.«
    »Wie macht man die um?« Murrays fummelt mit seinen Wurstfingern an dem zierlichen Ding herum wie ein Walross, das sich mit einem Handy abmüht.
    »Das ist eine Clip-Fliege, Murray. Die klippt man an.«
    Es gibt eine Ankündigung: Die Vorführung wird in Kürze beginnen. Xavier schnappt Murray beim Revers und befestigt die Fliege, dann nimmt er ihn am Ärmel und lotst ihn zum Zuschauerraum. Auf halbem Wege in den abgedunkelten Saal, in dem ein verhalten erwartungsvolles Stimmengewirr herrscht, dreht sich Murray noch einmal um und angelt sich ein Glas Wein von einem Tablett, wodurch er unter den Nachzüglern am Haupteingang einen Stau verursacht, der sich auflöst, als das Licht gedimmt wird und der Film anfängt.
    Der Film ist passabel, aber wenig prickelnd, in etwa so wie erwartet. Am Ende setzt ein massenhaftes Piepen und Zirpen ein, wie ein elektronisches Vogelkonzert bei Sonnenaufgang, als Hunderte von Handys gleichzeitig wieder eingeschaltet werden. Als sie beim anschließenden Empfang ankommen, drängen sich die Leute schon in drei Reihen um die Bar mit den Gratisgetränken, und Murray macht sich auf in den Kampf. Xavier beobachtet, wie eine PR -Beauftragte für den Film mit den Journalisten flirtet, als ihn plötzlich jemand am Ärmel zupft. Es ist die Fernsehproduzentin, die er letztes Jahr Weihnachten kennengelernt hat. Genau wie damals steht sie auf zwei langen, bleistiftdünnen Absätzen; es muss sich anfühlen, als würde man versuchen, auf Krebsscheren herumzustaksen, denkt Xavier. Mit ihrer Nicht-Champagner-Hand packt sie seine und reckt sich zu ihm hoch, um den Wangenkuss in Empfang zu nehmen, zu dem sich Xavier genötigt fühlt.
    »Wie geht’s?«, fragt er höflich.
    »Bestens! Mit wem bist du hier, mit deiner Freundin oder …?«
    »Nein, mit einem Freund«, sagt er und deutet

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